Psychisch kranke Täter, die zum Messer greifen, erschüttern das Sicherheitsgefühl. Dabei gibt es auch gegen schwer berechenbare Täter Mittel und Wege. Doch dafür braucht es politische Entschlossenheit.
Sie lesen einen Auszug aus dem Newsletter «Der andere Blick am Abend», heute von Susanne Gaschke, Autorin der NZZ Deutschland. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
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Was geht in einem Menschen vor, der ein Messer in den Körper eines anderen Menschen rammt? Eines anderen Menschen, der ihm nichts getan hat, den er gar nicht kennt, der nur zur falschen Zeit am falschen Ort ist?
Mit einer im weitesten Sinne normalen Psyche ist weder die Intimität noch die Brutalität einer derartigen Tat zu verstehen. Das macht es einer freiheitlichen Gesellschaft schwer, sich gegen Amokläufe wie jenen vom vergangenen Freitag zu wappnen: Eine offenbar seelisch gestörte Frau hatte auf dem Hamburger Hauptbahnhof wahllos auf fünfzehn Reisende eingestochen und sie zum Teil schwer verletzt.
Beispiellos war diese Attacke nicht: Im Jahr 2006 hatte ein volltrunkener Sechzehnjähriger nach dem Fest zur Eröffnung des neuen Berliner Hauptbahnhofs fast vierzig Menschen mit einem Messer verletzt, viele ebenfalls schwer. 2023 erstach ein polizei- und psychiatriebekannter Palästinenser ein junges Paar in einem schleswig-holsteinischen Regionalexpress und verletzte vier weitere Passagiere. Im Januar tötete ein 28-jähriger Afghane mit Polizei- und Psychiatriegeschichte in einem Aschaffenburger Park einen Mann und ein Kleinkind und verletzte drei weitere Menschen schwer, unter ihnen ein zweites Kind.
Der Wahnsinn der Täter und ihre Unberechenbarkeit machen es sehr schwierig, solche Taten zuverlässig zu verhindern. Aber es liessen sich durchaus andere Konsequenzen daraus ziehen, als Politik und Behörden es gegenwärtig tun.
Da ist zunächst die Sprache, in der die Verantwortlichen auf die Vorfälle reagieren. Sie dürfte gern etwas leiser sein, dafür weniger routiniert. Leicht kann man von «abscheulichen Taten» und der «vollen Härte des Gesetzes» schwadronieren. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen, denen ihr bisheriges Leben in einem einzigen Augenblick entrissen wurde, wäre echtes, spürbares Mitleid aber wohl tröstlicher. Und natürlich, dass sich erkennbar etwas ändert.
Irritierend ist die Psychiatrievorgeschichte vieler Messertäter. Auch die Beschuldigte von Hamburg war nach Medienberichten erst am Vortag aus einer geschlossenen Einrichtung entlassen worden. Die Klinik wurde mit dem lakonischen Satz zitiert, es habe zum Zeitpunkt der Entlassung «keinen Befund» gegeben, der die weitere behördliche Unterbringung der Frau gerechtfertigt hätte. Eine «freiwillige Weiterbehandlung» sei «nicht gewünscht» gewesen.
Ein psychiatrischer Befund oder Nichtbefund dürfte immer eine schwierige Ermessensangelegenheit sein. Die Zwangsunterbringung ist ein schwerer Grundrechtseingriff. Aber mit dem Wissen von Freitagabend muss man feststellen: Dieser Nichtbefund hat sich als Fehler erwiesen. Und zwar als fataler Fehler.
Man sollte diejenigen, die ihn gemacht haben, nicht verdammen oder an den Pranger stellen. Aber es wäre in jeder Hinsicht heilsam, wenn sie ihren Irrtum eingestehen könnten, statt sich hinter verantwortungsverschleiernden Passivkonstruktionen zu verstecken.
Ausserdem stellt sich die Frage, ob es gute ärztliche Praxis ist, eine labile Person zurück in die Obdachlosigkeit zu entlassen, wie es hier offenbar geschah. Die psychiatrische Zunft hat es anscheinend nötig, ihre Entscheidungskriterien zu überprüfen.
Personalmangel und Kostendruck mögen es oft nahelegen, sich schwer therapierbarer Patienten mit schlechter Prognose irgendwie zu entledigen. Die Kliniken sind überfordert: Vergangenes Jahr trat beispielsweise der Direktor des Berliner Massregelvollzugs wegen unhaltbarer Zustände von seinem Posten zurück. Wenn aus solchen «unhaltbaren Zuständen» eine systematische Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu werden droht – und das scheint in Deutschland ja bereits so zu sein –, dann bedarf es im psychosozialen Bereich ähnlich schneller und entschlossener Aufrüstung wie bei Bundeswehr und Infrastruktur.
Ein Faktor bei der Prävention von Amoktaten könnte ausserdem der Zustand des öffentlichen Raumes sein, in dem sie geschehen. Der Hamburger Hauptbahnhof ist seit Jahrzehnten total überlastet: Auf Gleis 13/14 kann man auch in Gefahr geraten, weil die viel zu grosse Menge der Wartenden einen unabsichtlich fast aufs Gleis drängt.
Hamburger Landesregierungen sind in der Vergangenheit schon abgewählt worden, weil sie die Alkohol- und Drogenszene, die Kriminalität und den Dreck am Hauptbahnhof und im angrenzenden Stadtteil St. Georg nicht in den Griff bekamen. In einem solchen Umfeld fühlt sich kaum jemand für irgendetwas verantwortlich; jeder will nur schnell weiter.
Der rot-grüne Hamburger Senat redet sich seine weitgehend wirkungslosen Aufräumversuche schön. Dabei gäbe es ermutigende Vorbilder für Verbesserungen: Sowohl die nach der sogenannten «Broken Windows»-Theorie konzipierte Säuberung und Befriedung der New Yorker U-Bahn als auch eine massive Polizeikampagne des früheren Londoner Bürgermeisters Boris Johnson gegen epidemisch um sich greifende Messerattacken brachten diesen beiden Städten Linderung. Doch das erfordert politische Entschlossenheit und Stehvermögen – auch gegen reflexhafte linksliberale Einwände.
Wenn sich etwas ändern soll, muss das Achselzucken aufhören. Bei allen. Eine Zeugin der Hamburger Ereignisse wurde mit dem Satz zitiert, sie habe zufällig keine Kopfhörer auf den Ohren gehabt, sonst hätte sie den Aufruhr am Bahnsteig gar nicht bemerkt.
Diese Äusserung ist bezeichnend: Der moderne Mensch, jedenfalls der moderne Bahnkunde in Deutschland 2025, ist so darauf erpicht, sich seine Mitreisenden elektronisch vom Hals zu halten, dass er sie kaum noch wahrnimmt. Doch die neue Kultur der Verantwortung, die das Land in vielerlei Hinsicht und auf allen Ebenen braucht, fordert auch den Einzelnen.
Amoktaten sind nicht, wie es oft in Kommentaren heisst, «feige». Sie sind wahnsinnig, brutal, schlichtweg böse – aber vom Täter erfordern sie schon einen gewissen, sehr verqueren Mut. Erst recht aber braucht es Mut, um solche Täter zu stoppen. Diesen Mut zeigten in Hamburg ein junger Syrer und ein Mann, der aus Tschetschenien stammen soll.
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