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Leipziger Buchmesse: Mareice Kaiser sitzt auf dem Podium und erzählt, dass sie auf dem Weg hierher fast im Fahrstuhl hängen geblieben wäre – es erwischte die Person vor ihr, die auch zur Buchmesse musste und im Fahrstuhl hing, während Mareice die zehn Stockwerke hinunterrannte –, und dass sie dann hingefallen ist, blaue Knie. Aber am Ende hat alles geklappt, Applaus, wir legen los und fangen genau hier an: im Alltag.
der Freitag: Mareice, dein Buch ist eine Sammlung von Fragen zum Lebensalltag, die total harmlos daher kommen, aber sich schnell existenziell anfühlen: Wo finde ich eine passende Jeans? Darf ich meinen Kindern Geschenke kaufen, die ich selbst haben will? Und vor allem: Wie lerne ich Geduld? Wie lerne denn ich Geduld? Ich habe echt keine Ahnu
ich Geduld? Ich habe echt keine Ahnung, du?Mareice Kaiser: Nein, ich auch nicht.Genau! Ich habe extra nachgeblättert, um endlich zu lernen, wie ich geduldig werde, und du schreibst: Keine Ahnung.Das ist die einzige der insgesamt 101 Fragen, die ich mit „Ich weiß es wirklich selbst nicht“ beantwortet habe. Aber es ist ja auch ein Anti-Ratgeber: Anders als vielen Influencer*innen und TikTok-Lifecoaches, die gerade so erfolgreich sind, geht es mir nicht darum, den Menschen zu erzählen, wie sie richtig zu sein haben.Und trotzdem hast du darin sehr gute Ratschläge. Wo du wirklich Ahnung hast, und da steigen wir jetzt mal ein: Wie freunde mich mit meinem Busen an? Wobei es im Buch eigentlich darum geht, wie man den richtigen BH findet. Mareice, welche BH-Größe hast du?Zunächst einmal: Ich weiß nicht, ob unsere Brüste unbedingt unsere Freunde sein müssen, wie bei Heidi Klum. Sie hat Ihren Brüsten ja Namen gegeben. Kennt Ihr die Namen der Brüste von Heidi Klum?(Publikum:) Hans und Franz!Genau. Also, meine Brüste haben keine Namen, aber die Geschichte von meinen Brüsten geht so: Irgendwann kam Tag X, also Tag B, für Brüste. Ich weiß nicht, wie ich dahin kam, aber ich stand in der Kabine eines Unterwäscheladens für große Brüste. In meiner Vorstellung, vorher, war das wie eine Mischung aus Besuch bei Gynäkologin und Zahnarzt. Die Beraterin musterte mich in meinem BH, das war der beste, den ich hatte, und seufzte, während sie daran herumzuppelte. Ratsch. Zog sie ohne Ankündigung das Schulterband kürzer und – ratsch! – auf der anderen Seite auf. Huch, was war das? Falsch eingestellt, sagte sie.Sie erklärt dir dann, dass kein BH auf Anhieb sitzt, und du lernst, wie du „dein Fettgewebe richtig in die Körbchen quetschst“, wie du schreibst. Ich fühle es!So ein bisschen wie ein Kuchenteig und wie tief unten das Unterbrustband am Rücken sitzen muss, viel tiefer, als es vorher jemals bei mir saß.Die meisten Leute tragen wohl zu kleine Cups?Das stimmt, und so auch ich damals. Ich hatte dann den passenden BH, sehe mich im Spiegel und ich denke, wow! Ich atme und ich denke, wow, meine Haltung ist gerade, ich spüre meine Brüste nicht mehr auf die schwere Art wie sonst und sie sehen ziemlich gut aus in diesem BH. Und jetzt die Antwort auf deine Frage.Danke.Als ich reinging, dachte ich, meine BH-Größe wäre so was wie 85D. Als ich rausging, wusste ich, dass meine BH-Größe 75J ist. A, B, C, D, E, F, G, H, I… genau: J. Es gibt übrigens noch größere Cups. Ich gehe aufrechter seitdem. Ich finde mich schön. Nicht normschön, aber schön.Jetzt merken wir schon an unserem Lachen und auch dem Kichern im Publikum: Da steckt viel in dieser Geschichte, es scheint mit Scham zu tun zu haben. Ich selbst war noch nie in einem Laden für große BHs, und trotzdem macht deine Geschichte viel mit mir. Was ist das Politische an dieser Geschichte?Du sagst, du musstest noch nie in so einem Laden gehen. Du hast einen normschönen Körper, du musst halt auch nicht dahin. Mit meinen Brüsten kann ich nicht einfach so zu H&M gehen und mir einen BH kaufen. Das zeigt, für wen Kleidung gemacht wird: Nämlich für Leute, die bis Größe 42 tragen, bitte nicht größer. Und auch das ist politisch. Also welcher Körper kann easy einen BH oder eine Unterhose oder eine Hose kaufen? Das sind auch politische Entscheidungen. Welche Körper gelten als normal und welche nicht?Placeholder image-1Auch ich kann mich gut daran erinnern, wie ich als Jugendliche zum ersten Mal in der Unterwäsche-Abteilung war und einen BH kaufen wollte, es kam sofort eine Verkäuferin, die an meinen Brüsten herumzuppelte und sagte: Die liegen nicht richtig, und dann dieses ratsch, ratsch. Wie komisch, oder? Da kommt eine fremde Frau und sagt zu einer Dreizehnjährigen: Du musst deine Brüste anders formen, damit sie schön werden für uns?Sogar mehr als das, sie sagt ja im Prinzip: Deine Brüste sind nicht richtig so, also: du bist nicht richtig so.Und trotzdem stellt sich mir die Frage, auch in deinem Kapitel über Hose und Kleid: Wieso sind solche Klamottenentscheidungen eigentlich so zentral für unsere Identität?Ich erzähle in dem Kapitel Kleid oder Hose, dass ich sehr lange eine Kleidperson war. Das ist praktisch – man merkt nicht schnell, ob der Bauch dicker oder dünner wird. Das Kleid passt immer. Das ist eigentlich super. Und dann war ich mal auf einer Veranstaltung – witzigerweise war das diese Veranstaltung, auf der Angela Merkel sich als Feministin bekannt hat, neben Christine Lagarde – im Publikum, und mir ist aufgefallen, dass alle Frauen auf der Bühne, außer Christine Lagarde, Hosenanzüge trugen. Sie war die Einzige mit Kostüm, also mit Rock. Meine Kollegin sagte mir damals: Ja so ist das halt, wenn man Macht hat in der Politik, du trägst irgendwann kein Kleid mehr, da kommst du auch noch hin. An solchen scheinbar kleinen Klamottenentscheidungen sehen wir, was für krasse Debatten es gerade gibt: In den USA gibt es eine Diskussion darum, dass Mädchen verboten werden soll, kurze Haare zu tragen! Rund um die Debatte um trans Personen. Am Ende geht es darum: Wer wir sein dürfen. Und wer das entscheidet. Bei deinen Alltagsfragen geht es nicht nur um Fragen der Geschlechtsidentität, sondern auch um soziale Ungleichheit – und zwar dort, wo man es kaum vermuten würde. Zum Beispiel: Soll ich den Adventskalender für mein Kind selbst basteln?Oh Gott, was habe ich denn nochmal darauf geantwortet!? (lacht) Es sind ja 101 Fragen und Antworten – ich bitte zu verzeihen, dass ich vielleicht gerade nur diese jetzt nicht so konkret erinnere.„Ich weiß es doch auch nicht“ ist ja dein Buchtitel, und immer eine sehr passende Antwort. Dann springe ich mal ein: Du schreibst darüber, dass sehr viele Eltern einerseits nicht die Zeit und Energie, und andererseits nicht das Geld haben für einen selbstgebastelten Kalender. Mich hat diese Geschichte berührt, denn meine Mutter hatte für einen selbstgebastelten Kalender nicht die Energie, was kein Problem für mich war, denn ich habe diese Schoko-Adventskalender wirklich geliebt. Wurde aber dann in der Schule dafür gedisst: Wie, du hast nur Schoko?!Ja, das kenne ich. Ich hatte ganz oft Freundinnen neben mir, die dann so ganz tolle Brötchen mit Käse und dann noch Salat hatten. Ich hatte immer Graubrot mit Butter und so einen billigen Käse.Die Frage nach den Hausaufgaben ist aber noch wesentlich radikaler als die nach dem Adventskalender: Wieso findest du, Eltern sollten ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen?Genau, ich sage: Wenn ihr euren Kindern bei den Hausaufgaben helft, verstärkt ihr soziale Ungerechtigkeit. Hier sehen wir: Das Private ist politisch. Also alles, was ich als private Person tue, ist auch politisch und hat politische Auswirkungen. Wenn ich die privilegierte weiße Mama bin, die alles für ihr Kind tut, dann hat dieses Kind einfach die allerweltbesten Voraussetzungen. Aber wenn ihre beste Freundin aus einer Familie kommt, wo die Eltern im Schichtdienst arbeiten, die gar nicht zu Hause sind zu einer Zeit, wo Hausaufgaben gemacht werden, dann sorge ich dafür, dass diese beiden Kinder noch unterschiedlichere Voraussetzungen bekommen, als sie eh schon haben. Gut in der Schule ist dann immer das Kind mit den privilegierten Eltern.Wir haben tatsächlich darüber diskutiert zuhause. Unser Kind, mein Stiefkind, fängt gerade an, Hausaufgaben machen zu müssen. Es ist unheimlich schwer, sich da jetzt nicht einzumischen, ich könnte doch nur ganz kurz ...Am Ende läuft alles auf die Frage hinaus: Wie viel kann ich mit meinem persönlichen Leben, mit meinen persönlichen Lebensentscheidungen dazu beitragen, eine Welt besser zu machen?Nun ist ja, wie du sagst, alles politisch: Ob ich morgens Kleid oder Hose anziehe, was ich zum Mittag esse, wie ich in den Urlaub fahre, ob ich meinem Kind bei den Hausaufgaben helfe. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der alle unglaublich müde sind: Arbeiten, Familie, Kinder, das überfordert. Wenn wir jetzt bei jeder dieser kleinen Alltagsentscheidungen immer das politisch Richtige machen wollen, ist das halt ...… krass anstrengend! Ja, das stimmt. Nur gibt es ja nicht das eine politisch Richtige, das ist eine Entscheidung, die jede von uns für sich selbst treffen muss. Aber ja: eine gerechtere Gesellschaft ist Arbeit, Elsa. Auf jeden Fall. Und ich beobachte, dass meistens die von ihrer Müdigkeit erzählen, die sehr privilegiert sind. Weil das die sind, die sich auch trauen, von ihrer Müdigkeit zu erzählen. Die dafür Kapazitäten haben. Und es gibt unheimlich viele Menschen, die sich nicht leisten konnten, sich Gedanken darüber zu machen: Bin ich eigentlich müde oder nicht? Weil sie funktionieren müssen. Weil sie an der Armutsgrenze leben, weil sie Kinder pflegen, weil sie Angehörige pflegen, weil sie von Rassismus betroffen sind, weil Sie behindert werden. So viele Menschen, die sind noch viel müder als wir. Und sie kämpfen trotzdem.Ich denke, es ist jetzt klar geworden, warum BHs und Hausaufgaben zutiefst politisch sind. Eine Frage habe ich aber noch.Ja?Was ist das beste Alter?Das ist, wenn man irgendwann zum ersten Mal denkt: Fuck you. Ein Chef, der sexistisch ist? Fuck you. Ein Job mit Arbeitszeiten, die es unmöglich machen, Freund*innen zu haben? Fuck you. Eine Jeans, in der man nur stehen kann? Fuck you! Man kommt ins Fuck-you-Alter.Und wann ist das?Bei mir hat das Fuck-you-Alter so mit Mitte 30 begonnen, jedenfalls das Denken, das Sagen so mit Ende 30. Der Beginn des Fuck-you-Alters ist aber individuell. Ich habe Freundinnen, die Ende 20 sind und schon voll im Fuck-you-Alter. Ich bewundere sie und ich freue mich für sie, denn wer weiß, wie so ein Leben in den 40ern aussieht, wenn das Fuck-you-Alter schon Ende 20 beginnt? Es muss wunderschön sein.Wunderschön.
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