Tapfere Krieger, die Göttern wie Wotan opferten, eine Gemeinschaft, die den Römern Widerstand leistete: So lauten die Klischees über die Bevölkerung im Land östlich des Rheins vor 2000 Jahren. Wissenschaftlich ist das unhaltbar. Eine Zerstörung in drei Punkten.
Hitler hatte es nicht so mit den Germanen. «Warum stossen wir die ganze Welt darauf, dass wir keine Vergangenheit haben? Nicht genug, dass die Römer schon grosse Bauten errichteten, als unsere Vorfahren noch in Lehmhütten hausten, fängt Himmler nun an, diese Lehmdörfer auszugraben. Wir hätten eigentlich allen Grund, über diese Vergangenheit stille zu sein», soll der deutsche Diktator 1941 beim Essen in kleiner Runde gesagt haben; so erinnerte sich jedenfalls Hitlers Hofarchitekt Albert Speer.
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Öffentlich klang es zumindest 1934 allerdings noch ganz anders: Da behauptete Hitler in einer Rede, schon tausend Jahre vor den Römern seien die Germanen kulturell herausragend gewesen, und «wir brauchen uns unserer Vorfahren nicht zu schämen.»
Was Hitler nun auch wirklich über die Germanen dachte – in rechtsextremen Kreisen sind sie jedenfalls auch heute noch sehr populär.
«Die Germanen», das sollen die ursprünglichen Bewohner des Gebietes sein, das heute Deutschland heisst oder, auf Englisch, Germany. In einer völkischen Perspektive sind sie die reinen, unvermischten Deutschen, die seit Jahrtausenden blond und blauäugig die deutsche Scholle bewirtschaften und Eindringlinge abwehren. Bei «Asterix» heissen sie Goten und sprechen in der ebenfalls in rechtsextremen Kreisen beliebten Frakturschrift (die Hitler übrigens verbieten liess).
Dass eine Germanen genannte Gruppe überhaupt mit dem Gebiet des heutigen Deutschland assoziiert wird, liegt allerdings vor allem am politischen Kalkül eines anderen Diktators: Gaius Julius Cäsar, vor etwas mehr als 2000 Jahren Machthaber in Rom. Fragt man Archäologen, was sie über die Germanen wissen, lautet die ehrliche Antwort: nichts.
Die erste schriftliche Erwähnung einer Gruppe namens Germani ist älter als Cäsar. Trotzdem sagen Historiker und Archäologen: Es war Cäsar, der die Germanen erfunden hat.
Als Cäsar in den Jahren 58 bis 50 v. Chr. Gallien eroberte und darüber ein Buch schrieb, den «Gallischen Krieg», da wollte er sich damit politisch profilieren – und rechtfertigen. Er brauchte eine Begründung, wo Gallien im Osten endete, und stellte den Rhein als kulturelle Grenze dar. Östlich des Rheins lebten demnach nicht schon halbzivilisierte Menschen wie die Gallier, die man problemlos und gewinnbringend ins Reich eingliedern konnte. Sondern dort hausten in dunklen Wäldern wilde Horden: die Germanen.
Als höchste Tugend gelte ihnen Enthaltsamkeit; wegen ihres Desinteresses an Ackerbau ernährten sich die Germanen vor allem von Milch, Käse und Fleisch. Zusätzlich garniert ist der Text mit Anekdoten über eine Art Einhorn und über Elche ohne Kniegelenke, die sich zum Schlafen an Bäume lehnen müssen.
Cäsar und Tacitus machen bei vielen der den Germanen zugerechneten Stämme auch Angaben zum ungefähren Siedlungsgebiet. Deshalb findet man heute in Schulbüchern oder Lexika diese sehr anschaulichen Karten, auf denen Chauken, Chatten, Langobarden und all die anderen in ihre Landschaften einsortiert sind, und darüber steht: die Germanen.
Viele Wissenschafter sind sich heute allerdings sicher: Die Menschen, um die es geht, haben sich selbst nie so genannt oder sich nie als einheitliche Gruppe gesehen.
Anfang des 19. Jahrhunderts war das Gebiet des heutigen Deutschland in viele kleine politische Einheiten zersplittert. Intellektuelle begannen, eine gemeinsame deutsche Identität zu suchen; die sich neu entwickelnde Altertumsforschung bot sich an, die Belege für die Ursprünge dieser Identität zu liefern.
Das Werk «Germania» des römischen Geschichtsschreibers Tacitus wurde dankbar als glaubwürdige Quelle ausgeschlachtet: Die Germanen, schrieb Tacitus 150 Jahre nach Cäsar, seien kräftige Gestalten mit drohend blauen Augen, rotblondem Haar und viel Kraft gewesen. Vielleicht noch fataler ist seine Aussage, die Germanen seien die ureingeborenen Bewohner dieses Landes und hätten sich kaum mit später zugezogenen Fremden vermischt.
Dann kam auch noch Richard Wagner mit seinem Opernzyklus «Der Ring des Nibelungen» und verhalf damit der als germanisch angesehenen Mythologie zu ungeheurer Popularität. Die Kostüme bestimmten Vorstellungen über das Aussehen der Germanen, die immer noch weit verbreitet sind – und frei erfunden.
Die Nationalsozialisten nutzten diesen völkisch-nationalistischen Nährboden für ihre Zwecke. Funde von Ausgrabungen wurden ohne Rücksicht auf wissenschaftliche Kriterien so gedeutet oder notfalls frisiert, dass sie das Bild von den tapferen Hünen bestätigten. Vor allem der Reichsführer SS Heinrich Himmler war ein grosser Anhänger der Germanen-Idee und wurde, wie oben erwähnt, zumindest im privaten Rahmen von Hitler dafür verspottet.
Trotzdem beziehen sich auch neue Nazis gerne auf die Germanen. Sie tauchen auf T-Shirts, Tätowierungen und zuweilen auch in der Rhetorik der AfD auf. Eine rechtsextreme Zeitschrift gab kürzlich ein Sonderheft zu den Germanen heraus. Vor allem Wotan hat es ihnen angetan, der oberste der Götter, der auch Wodan heisst oder Odin, zuständig für Krieg und Tod. «Soldiers of Odin» nennt sich eine rechtsextreme Gruppierung mit Ablegern auch in Deutschland. In Bayern stehen Mitglieder von «Wodans Erben Germanien» wegen Rechtsterrorismus vor Gericht.
Und Hans-Jörg Karlsen, Archäologe an der Universität Rostock und zukünftiger wissenschaftlicher Leiter des noch einzurichtenden archäologischen Landesmuseums von Mecklenburg-Vorpommern, sagt im Hinblick auf die Ausstellungskonzeption bei einem Videotelefonat: «Da müssen wir aufpassen, dass das Museum nicht zu einer Pilgerstätte für Rechtsextremisten wird.»
Auch wenn es die Germanen nie gegeben hat, werden sie erforscht. Das ist nicht so paradox, wie es zunächst klingt. Wichtig ist: Mit dem Wort «germanisch» sind je nach Disziplin völlig unterschiedliche Dinge gemeint.
Für Sprachwissenschafter sind die Germanen die Menschen, die die Urform der germanischen Sprachen gesprochen haben.
Für Historiker sind die Germanen die Gruppen, von denen die Quellen wie Cäsar und Tacitus berichten.
In der Archäologie ist der Begriff eigentlich ganz fehl am Platz. Er suggeriert eine Einheit, die es nicht gab. Manche Archäologen vermeiden die Bezeichnung deshalb inzwischen komplett, viele wählen aber auch einen pragmatischen Ansatz: In der Öffentlichkeit ist der Begriff weit verbreitet, und er ist sehr viel griffiger als jede Alternative.
Wenn Archäologen also heute «Germanen» sagen, dann wollen sie damit rein geografisch die zwischen Weichsel und Rhein bis nach Skandinavien siedelnde Bevölkerung bezeichnen.
Auch der Archäologe Karlsen weiss um dieses Dilemma. Er benutzt den Begriff durchaus – allerdings, das ist wichtig, immer ohne bestimmten Artikel: Germanen. Und, schickt er sofort hinterher, er verwende ihn immer in dem Wissen, dass es sich um eine römische Fremdzuschreibung handle und nicht um eine Nation.
Ganz grundsätzlich gilt es heute nicht mehr als wissenschaftlich, archäologisches Material mit einer überlieferten Gruppenbezeichnung zu verbinden. Denn das würde voraussetzen, dass man den genauen Siedlungsraum und jedes Detail der materiellen und rituellen Kultur kennte. Chauken, Chatten, Langobarden: «Archäologisch sind diese Gruppen nicht fassbar», sagt Karlsen deshalb.
Die Bevölkerung sei ein Mischsubstrat gewesen, «sehr heterogen, das war kein einheitlicher Kulturraum.»
Da sind zum Beispiel die oben erwähnten Häuser: Oft heisst es, typisch germanisch seien Langhäuser gewesen, in denen Menschen und Tiere unter einem Dach gewohnt hätten, getrennt durch einen Korridor. Tatsächlich lässt sich diese Hausform aber nur im Norden nachweisen.
Auch was die wirtschaftliche Grundlage des Lebens war, ist keineswegs eindeutig. Eine systematische Analyse fehlt bis jetzt, Quellenmaterial wie Tierknochen ist oft nicht erhalten. An die römische Erzählung vom Desinteresse an der Landwirtschaft und vom ständigen Leben am Existenzminimum glaubt Karlsen nicht. «Es gibt diese riesigen Häuser, bis zu fünfzig Meter lang. Was war denn da drin? Die dienten bestimmt Speicherzwecken», sagt er.
Über die Religion lässt sich schon gar nichts gesichert sagen. «Sehr punktuell» gibt es laut Karlsen das Phänomen, dass Alltagsgegenstände in Mooren oder Gewässern abgelegt wurden. Das waren zum Beispiel Glasperlen, Keramikgefässe oder Metallspangen, sogenannte Fibeln, die wie Sicherheitsnadeln die Gewänder zusammenhielten. Die römischen Schriftquellen berichten von Seherinnen; namentlich belegt ist eine Veleda, eine andere namens Waluburg schaffte es, vielleicht in Diensten des römischen Heeres, bis nach Ägypten. Archäologisch fehlt von ihnen jede Spur.
Bei der Frage nach dem bei Nazis so beliebten Wotan winkt Karlsen dann beinahe entsetzt ab. «Der ist erst viel später in mittelalterlichen Schriften belegt», sagt er. «Ich wüsste nicht, wo ich im archäologischen Material Wotan identifizieren sollte.»
Gibt es denn gar nichts, was die Gruppen in dem Gebiet zwischen Rhein und Weichsel in den ersten vier Jahrhunderten nach Christus gemeinsam haben? «Vergleichbare Sozialstrukturen», antwortet Karlsen. Dann zögert er. «Wobei . . .», wieder zögert er, «selbst da funktioniert es nicht.»
Für Karlsen ist in seinen jüngsten Forschungsprojekten vor allem ein Aspekt herausragend: die Netzwerke der Gruppen untereinander. So wurden in den vergangenen Jahren mehrere Bronzekessel gefunden, die mit kleinen Männerköpfen verziert sind. Die Männer tragen eine sowohl von Tacitus als auch von Moorleichen und eben auch bildlichen Darstellungen bekannte Frisur: den sogenannten Suebenknoten. Im Internet gibt es Anleitungen, wie man ihn bindet; am besten soll es mit dünnem, leicht fettigem Haar funktionieren. Die Sueben lebten irgendwo zwischen Ostsee und Alpen. Der neueste Bronzekessel mit dem Suebenknoten wurde jedoch in Kariw gefunden – im Osten der Ukraine. Offenbar, sagt Karlsen, hätten Beziehungen über grosse Distanzen bestanden, ohne dass das eine kulturelle Zusammengehörigkeit bedeutet habe.
Die Menschen vor 2000 Jahren lebten in unterschiedlichen Häusern, sie hatten unterschiedliche Lebensweisen und unterschiedliche Rituale. Sie hatten keinen gemeinsamen Namen und keine gemeinsame Identität. Sie hielten auch nicht zusammen, sondern führten oft Krieg gegeneinander. Aber eines können Archäologen klar belegen: Miteinander verbunden waren sie trotzdem.
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