Europa: Warum wir in der besten aller Welten leben


This article is a passionate ode to Europe, highlighting its unique strengths, from its vibrant city boulevards and diverse culinary traditions to its democratic values and rich cultural heritage.
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Europa zuerst! Wir leben in der besten aller Welten. Eine Liebeserklärung an den alten Kontinent

Europa wird gerade bedrängt, ausgelacht und bedroht. Der alte Kontinent hat eine schwierige Vergangenheit, ist verschroben, hochnäsig und unbeweglich. Und doch lebt es sich nirgends so gut wie hier. Höchste Zeit für eine Lobeshymne in 15 Strophen.

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Nirgends bündelt sich das europäische Leben so sehr wie auf den kastanienbaumigen Boulevards, wo Tabakläden mit nikotinfarbenen Schaufenstern neben Kebabständen stehen, Schuhgeschäfte neben Bistros mit ausgewaschenen Markisen; wo Eltern ihre Kinder an der Hand zum Geigenunterricht zerren und Verliebte seit 150 Jahren im Passantengerangel stehen bleiben, um sich zu küssen.

Es gibt lauschigere Orte, fürwahr. Es gibt Plätze und Parks, es gibt Stadtkerne mit schiefen Fachwerkhäusern, in denen Studentenverbindungen gegen ihre Bedeutungslosigkeit ansaufen und sich Touristen in holzgetäferten Stuben Fleisch mit Sauce reinschaufeln.

Aber nur die Boulevards und die Königsalleen, die Ringstrassen und die Gran Vias mit ihren dieselverrussten Häuserzeilen tragen das Freiheitsversprechen des alten Kontinents in sich. Sie sind die Membran des Gestern und des Heute, sie umschliessen die Modrigkeit der Altstadtgassen und sind gleichzeitig das Tor in die grosse Welt: Wer Europa erleben will, spaziert seinen Boulevards entlang, den Rest von Paris, Triest und Budapest kann man getrost den Funktionsjacken tragenden Tripadvisor-Fundamentalisten überlassen, die davon überzeugt sind, eine Stadt zu entdecken, indem sie ihre Nasen in Smartphones stecken.

Kein Wunder, wurde hier das Flanieren erfunden, Odysseen des Zufalls. Mit dem Bau der Kanalisation Ende des 19. Jahrhunderts verschwand der Gestank, plötzlich wurde es attraktiv, die Wohnung zu verlassen und sich unter die Menschen zu mischen. Die breiten Trottoirs wurden zur Bühne, auf der man sich in Selbstdarstellung übte, noch so eine Tugend, die es in Europa zur Meisterschaft brachte.

Weder in Dallas noch in Dubai wird derart rege flaniert und gestreunert, promeniert und gebummelt, was mindestens nach einem Glas Chardonnay verlangt oder Sherry, der von einem hochnäsigen Kellner auf einem runden Tablett genau in dem Moment an den Tisch gebracht wird, wenn der Stadtbus keine zwei Meter davon entfernt eine Abgaswolke aus dem Auspuff stösst und die Szenerie für kurze Zeit in russigen Nebel hüllt, während sich ein gescheckter Dackel vor unseren Füssen erleichtert. Ach, Europa! Sacha Batthyany

Es ist die Kruste, die ein gutes Brot ausmacht. Fehlt es an dieser Krönung – etwa auf einer Reise durch Asien oder Afrika –, werden wir Menschen aus Europa schnell missmutig. Wie Bernd, das Brot, die Comicfigur aus dem Fernsehen. Diesem dauerdeprimierten sprechenden Kastenbrot möchten wir es gleichtun und am liebsten nur noch nach Hause gehen. Zu unseren knusprigen Baguettes, Ciabatte und Sauerteigbroten. Stattdessen beissen wir tapfer – auch das eine europäische Eigenschaft – in lampiges und mit Mayonnaise getränktes Toastbrot oder versuchen, das Weissbrötchen vom Continental-Breakfast-Buffet mit Konfitüre zu retten, bevor es zu Staub zerfällt.

Das Brot. Es ist der Reis der Europäer, unser allerliebstes Grundnahrungsmittel. Es zeigt sich in verschiedenen Formen und Getreidemischungen, ist mal lang, gedreht, geflochten, mal süss, sauer, bestreut, gebeizt und verleidet uns allein deshalb nie. Laut dem deutschen Brotexperten Lutz Geissler gibt es in Europa rund 200 verschiedene Brotarten, davon regionalspezifische Variationen. «Brot, wie wir es heute kennen, ist eine Entwicklung der vergangenen 200 Jahre», sagt Geissler. Natürlich sei davor schon gebacken worden. «Aber da weder die Getreidevielfalt, die Mehlqualität noch das Wissen und Technologien zur Verfügung standen, war das davor ein ganz anderes Brot.»

So viel Wissen, so viel Tradition. Kein Wunder, bilden wir uns ein, das beste Brot der Welt zu backen. Allen voran die Deutschen mit ihren preisgekrönten Roggenbroten. Aber auch die Schweiz ist mehr als ein herziges Zopf-Land. Was die wenigsten wissen: Das von trendigen Bäckereien so gehypte Sauerteigbrot hat seinen Ursprung am Bielersee. 1976 machten Archäologen bei Grabungen einen europaweit einzigartigen Fund. Zwischen Pfahlbauten und Pfeilspitzen entdeckten sie ein intaktes Sauerteigbrot. Es wies bereits alle Eigenschaften der heutigen Version auf. Mit dem Unterschied, dass es vor rund 5500 Jahren von Bewohnerinnen einer jungsteinzeitlichen Siedlung gebacken worden war. Wahre Trendsetterinnen. Andrea Bornhauser

Demokratie ist, wenn das EU-Parlament darüber berät, ob offene Olivenkännchen in Restaurants europaweit durch versiegelte Fläschchen ersetzt werden sollen. Die «Olivenkännchenverordnung» ist zwar nie in Kraft getreten; zum Paradebeispiel eines demokratischen Bürokratiemonsters wurde sie trotzdem.

Ach, die Demokratie! Vor 2500 Jahren in Athen erfunden, 1789 nach Amerika exportiert und in Frankreich weiterentwickelt, später in Weimar mit Füssen getreten; ein zartes Pflänzchen, oft zerzaust, Wurzel der Freiheit, des Fortschritts und des Friedens. In 100 Jahren hat kein demokratisches Land in Europa ein anderes angegriffen. Wäre doch auch Russland eine echte Demokratie!

Schon Kant, der Vordenker Europas, ahnte, dass Republiken nicht gegeneinander Krieg führen. Heute gehört seine These zu den empirisch belastbarsten Aussagen der Politologie. Weitere Vorzüge der Demokratie sind Mitbestimmung und Wohlstand: Von den zehn wirtschaftsstärksten Ländern der Welt wird nur China nicht demokratisch regiert. Auf dem Trittbrett der Demokratie haben sich zudem Wissenschaft, Sozialstaat, Rechtssicherheit entwickelt – in allen Kategorien ist Europa Weltspitze.

Wie viele europäische Exportschlager (Freiheit, Gleichheit usw.) ist auch die Demokratie keine absolute, sondern eine graduelle Grösse. Zur Quantifizierung dient das jährliche Demokratie-Scoring des «Economist», das derzeit von Norwegen vor Neuseeland und Schweden angeführt wird. Insgesamt weist Westeuropa den höchsten Durchschnittswert aller Weltregionen auf (8,38) und war auch die einzige Region, die ihren Wert 2024 steigern konnte.

Leider zeigt das Rating auch: Die Demokratie ist auf dem Rückzug. In 130 von 167 bewerteten Ländern hat ihr Wert im vergangenen Jahr abgenommen oder stagniert. Ausdruck davon ist der Abbau staatlicher Organe wie in Amerika, wo Olivenölkännchen so bald kein politisches Traktandum sein werden. Wo aber wie in Europa auch über Nebensächlichkeiten beraten wird, hat man sich über die Hauptsachen schon demokratisch geeinigt – gemeinsam an einem Tisch, an dem alle mitreden. Martin Helg

Beim französischen Kleidungsstil ist es wie einst beim beliebtesten Mädchen in der Klasse. Man möchte nicht zugeben, dass sie hübsch ist und lustig und dann, oh Schreck, auch noch nett. Aber sie ist es! Also wird der «French Chic», dieser Entwurf für ein modisch unanfechtbares Leben, in Büchern und Youtube-Videos in starre Regeln eingeteilt («10 Things Elegant French Women Over 50 Never Wear!») und auf Must-have-Produkte von Marken wie A. P. C. und Repetto heruntergebrochen.

Doch sie alle scheitern (oder münden in einer Serie wie «Emily in Paris»). Hinter dem Stil verbirgt sich mehr als roter Lippenstift und ein Top aus Baumwolle mit marineblauen Streifen, mehr als das ausschliessliche Trinken von Champagner und das beim Minimum belassene Haarewaschen.

Es geht um mehr als das Klischee. Es ist der Exzess im Kleinen: die Cardigans von Agnès B., die ein paar Druckknöpfe mehr haben, als man erwarten würde, und trotzdem nicht zu viele. Es sind die auf dem Lebensweg aufgegabelten Einflüsse einer Künstlerin wie Michèle Lamy: ihre schwarz eingefärbten Fingerkuppen (inspiriert von den Berberfrauen in Marokko) und die Tatsache, dass diese Fingerkuppen fast immer eine Zigarette halten (inspiriert von, was sonst, Jean-Luc Godards «À Bout de Souffle»).

«Salade», pflegt es die Stylistin Carlyne Cerf de Dud­zeele mit ihrer charakteristisch heiseren Stimme zu nennen: der Stil-Salat, ein Mix aus High und Low, Lacroix und Jeans, Literatur und Laune. Er wurde erst in Europa und dann in der ganzen Welt kopiert.

Der französische Stil machte die Mode zu einem Manifest für ein interessantes Leben, fern von Optimierungswut und der Besessenheit damit, wie man bei anderen ankommt. Wir könnten alle mehr davon gebrauchen. Einzig die Rolle der Sprache darf man nicht unterschätzen. Selbst Belangloses wirkt verführerisch, wenn man lächelnd sagt, die Caprihose aus Polyester sei von «chez Zara». Jana Schibli

Was haben die Menschen Italiens, Griechenlands und Frankreichs gemeinsam? Sie liegen gerne auf der Couch. Nicht um fernzusehen, das auch, aber vor allem, um zu reden – über ihre Gefühle, ihre Kindheit, ihre Probleme. Europa ist ein Kontinent der Psychotherapie. Nirgendwo ist die Dichte an Psychiaterinnen und Therapeuten höher.

Angefangen hat alles in Wien mit Sigmund Freud, der die revolutionäre Idee hatte, seelische Probleme nicht mit Medikamenten oder Elektroschocks zu behandeln, sondern mit Gesprächen. Heute gibt es in Österreich mehr Psychotherapeuten als Bäckereien.

Während in Amerika schnelle Lösungen und viele Medikamente gefragt sind und in asiatischen Kulturen oft die Harmonie der Gemeinschaft über das Seelenheil des Einzelnen gestellt wird, nimmt man sich in Europa Zeit. Hier darf eine Therapie Jahre dauern. Hier fragt man nicht nur «Wie werde ich das Problem los?», sondern auch: «Was sagt mir dieses Problem über mich selbst?»

Diese Haltung spiegelt sich auch in unseren Filmen. Bergman, Fellini, Almodóvar – sie alle zeigen Menschen, die mit ihren inneren Dämonen kämpfen und sich selbst hinterfragen. Selbst unsere Alltagssprache ist von psychotherapeutischen Begriffen durchdrungen. «Das triggert mich», sagen schon Teenager zu ihren Freunden. Wir sprechen von «unterdrückten Gefühlen» oder davon, dass etwas «toxisch» ist. Die Psychotherapie hat unsere Kultur bis in den Smalltalk hinein geprägt.

In einer Zeit, in der Funktionalität über allem steht und der Staat mit Kettensägen auf Effizienz getrimmt wird, bewahrt die Psychotherapie die wertvolle Überzeugung, dass Umwege, Zweifel und Fragen nicht vermieden werden müssen, sondern dass sie uns bereichern. Dass das Ziel nicht immer ein «geheilter» Mensch sein muss, sondern ein Mensch, der sich selbst besser versteht.

Und so passt es zu uns, dass wir uns die Zeit nehmen, um auf der Couch zu liegen. Nicht weil wir besonders neurotisch wären, sondern weil wir glauben, dass jeder Mensch eine einzigartige innere Welt hat, die es zu entdecken gilt. Dennis Frasch

Frau Chiaro, Sie sind Professorin in Bologna und forschen über Humor. Was kennzeichnet den europäischen Humor?

Delia Chiaro: Das ist schwierig zu beantworten. Es gibt vielleicht so etwas wie den westlichen Humor, keinen europäischen. Wir lachen in der Regel über andere Dinge als die Leute in China. Innerhalb Europas aber gibt es Unterschiede. Ich lebe als Britin in Italien. Den italienischen Humor empfinde ich als eher primitiv. Aber sagen Sie niemandem, das hätten Sie von mir.

Primitiv?

Na ja, eher banal. Dazu kommt, dass der Alltag weniger durchdrungen ist vom Humor, während etwa in England die ganze Zeit versucht wird, Menschen zum Lachen zu bringen.

Was macht den britischen Humor so einzigartig?

Er ist trocken und unaufgeregt. Wir nehmen uns nicht so ernst, prahlen nicht mit unseren Kindern und protzen nicht mit neuesten KĂĽchenutensilien. Briten sind keine Angeber.

Ist Bescheidenheit eine Voraussetzung, um lustig zu sein?

Humor beginnt mit Selbstironie. Man sollte sich nicht zu wichtig nehmen. Da kommt mir Donald Trump in den Sinn.

Weil er nie ĂĽber sich lacht?

Er macht sich lustig über andere, zum Beispiel über Menschen mit Behinderung. Das ist ein Humor, den wir vielleicht nicht mögen, aber es ist trotzdem eine Form von Humor.

Was sind Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Witzen?

Der Witz ist tot. Als ich jünger war, passierte ständig, dass jemand kam und sagte: «Ich muss dir einen Witz erzählen.» Stattdessen haben wir heute jede Menge Comedians. Die Europäer sind oft subtiler als die amerikanischen Comedians, ihre kulturellen Referenzen, auf die sie verweisen, liegen tiefer in der Vergangenheit.

Gibt es Zeiten, in denen der Humor blüht? Oder anders gefragt: Braucht Humor Tragik – davon haben wir in Europa gerade genug?

Schon Aristoteles wies darauf hin, dass Humor und Tragik zusammengehören. Denken Sie an die Pandemie: Wir haben uns monatelang lustige Memes zugeschickt, um all das Schlimme zu verarbeiten. Aber Sie haben eben noch etwas Kluges gesagt, was war es noch?

Etwas Kluges? Unmöglich.

Ob es eine gute Zeit für den Humor sei. Boris Johnson war schrecklich, aber er war lustig und Selenski war ein Komiker, bevor er Präsident der Ukraine wurde. Also ja, es sind schreckliche Zeiten, aber gute Zeiten für den Humor, was nicht bedeutet, dass uns zum Lachen zumute ist.

Interview: Sacha Batthyany

An der Sekundarschule meiner mitteleuropäischen Kindheit machte sich die Chancengleichheit durch das Schrillen der Pausenglocke bemerkbar: für uns Jungs das Zeichen, die Backsteintreppe hinab und quer über den Pausenplatz zu den Stangen zu rennen, die uns als Fussballtore dienten. Die ersten sechs, die dort anschlugen, durften mitspielen, egal ob sie im FC waren oder totale Flaschen am Ball.

Ach ja, und in umgekehrter Richtung rief uns dieselbe Glocke wieder zu Mathe und Französisch, egal ob Arbeiter- oder Akademikersöhnchen. Hier durften dann sogar die Langsamen mitmachen und mit etwas Verspätung auch alle Mädchen: Ein europäisches All-Inclusive-Angebot, das bis heute nicht überall auf der Welt gilt.

Die allgemeine Schulpflicht, der wohl nobelste Praxisfall für die Werte der Aufklärung, muss irgendwo zwischen Paris und Prag erfunden worden sein. 1717 zuerst in Preussen eingeführt, gehört sie zu den symbolträchtigsten europäischen Exportgütern. Nicht dass davor nicht unterrichtet worden wäre. Babylon, Ägypten und China waren Bildungshochburgen, als Europa noch der Renaissance entgegendämmerte und sein antiker Wissenskanon den Happy Few in den Klöstern vorbehalten war.

Auch die Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und (späteren Schwesterlichkeit), die der Schulpflicht zugrunde liegt, ist kein europäisches Unikat. Sie wäre aber ohne Aufklärer wie Jean-Jacques Rousseau oder Johann Heinrich Pestalozzi ein Hirngespinst geblieben. Rousseau nahm im Erziehungsroman «Émile» das Kind als gleichwertiges Wesen ernst. Pestalozzi verstand Bildung nicht nur als Mittel zur moralischen Besserung, sondern als Recht für alle – auch für jene mit schmutzigen Fingern.

Schrillende Schulglocken gehören heute zu den Checks und Balances der sozialen Gesellschaftsidee. Entgegen optimistischeren Erwartungen hat sich dies leider nicht weltweit durchgesetzt, sondern befindet sich gerade auf dem Rückzug. Doch während Wohlstandsscheren weltweit wieder weiter aufklaffen und etwa in Amerika gerade das Geld daran ist, die Macht im Staat zu übernehmen, führt die europäische Sozialstaatlichkeit tapfere Rückzugsgefechte. Noch lernt hier jeder Schüler und jede Schülerin mindestens ein Rilke-Gedicht («Der Panther») kennen: Auch das hilft dem sozialen Frieden. Martin Helg

Zu perfekt ist uns suspekt, Europa ist nicht der Kontinent des vereinheitlichten Lifestyle-Konzepts, sondern der gepflegten kleinen Eigenheiten. Böse Zungen sehen darin einen Analcharakter, aber wir schätzen bloss den Eigensinn, das Kauzige, das hübsche Detail. Nur in Europa kennt jedes Land seine eigene Steckdose und ein ausgeklügeltes länderspezifisches Recycling-System.

Kein anderer Kontinent kennt Fenster, die sich kippen und drehen lassen, oder Toiletten, die eine Spar- und eine Vollspülung anbieten. Wir Europäerinnen schätzen die Variation.

An Wochenenden pflegen wir es, einen Ausflug in ein anderes Land zu unternehmen, um nach nur zwei, drei Stunden in eine völlig andere Kultur, Mentalität und Küche einzutauchen. Da gilt mal Links-, mal Rechtsverkehr. Manchmal braucht man Euro, mal Pfund, mal Kronen. In einigen Ländern teilen sich die Leute ihre Waschmaschinen mit dem ganzen Block, andere haben ihre Anschlüsse direkt in der Küche neben dem Spülbecken.

Ausserdem nehmen wir unseren Müll so ernst wie niemand sonst. Wir wollen es schön haben. Schweizerinnen und Schweizer kaufen sich an spezifischen Verkaufsstellen die wahrscheinlich teuersten Plastiksäcke der Welt, um ihren Abfall loszuwerden.

Deutschland kennt einen gelben Sack fĂĽr VerpackungsmĂĽll und einen blauen Sack fĂĽr Papier. BiomĂĽll kommt in den braunen Eimer und fĂĽr den RestmĂĽll gibt es einen grauen.

Nicht zu vergessen die Rückgabeautomaten für Pfandflaschen, die würde man in den USA wahrscheinlich für kaputte Getränkeautomaten halten. Wir bewundern derweil Schweden. Das Land kann inzwischen 99 Prozent seines Mülls wiederverwerten und importiert sogar noch welchen aus Norwegen. Jedes Land nach seiner Façon.

Und wenn wir uns manchmal fragen, was uns Europäerinnen und Europäer am Ende überhaupt zusammenhält, liegt die Antwort auf der Hand: der Adapter, den wir in unseren Reisetaschen mit uns tragen. Rafaela Roth

Kritische Geister argwöhnen, Europa masse sich das Urheberrecht auf den grössten Sport nur an. Sind nicht in China schon früher Bälle gerollt, lange bevor in London im Jahr 1863 die englische Football Association gegründet wurde? Hat nicht Brasilien fünf WM-Titel gewonnen, noch einen mehr als Deutschland und Italien? Und sind nicht gerade sie die grössten Dribbler, Bauchspieler, Garanten für die Schönheit des Spiels?

Alles richtig. Aber nichts davon wiegt die Trophäensammlungen von Real Madrid, Manchester City oder Bayern München auf. Kein Fussball-Champion seit Pelé ist ausserhalb des alten Kontinents gross geworden, in dessen Nachwuchsabteilungen der Erfolg gedeiht.

Nirgendwo wird effizienter an Taktik und Strategie gefeilt, besser gespielt, bezahlt, begeistert. Kein Wettbewerb hat höhere Einschaltquoten als die europäische Champions-League, 12 von 22 Weltmeistertiteln sind nach Europa gegangen.

Warum? Wahrscheinlich hängt auch hier wieder alles mit der Demokratie, sprich: dem Teamgedanken, zusammen. Nicht das Format des besten Solisten entscheidet über Sieg und Niederlage, sondern das Öl in den Scharnieren des kollektiven Räderwerks. Rasen-Gangster wie der Brasilianer Neymar sind nichts ohne Passgeber, Verteidiger und Strippenzieher.

Flankengötter wie Toni Kroos und Kopfballmonster wie Erling Haaland, die Flanken in Tore verwandeln, verkörpern diese Gewaltenteilung: Zwei rein europäische Gewächse und Gegenmodelle zum selbstverliebten Balldespoten.

Bananenflanken (genauso wie der Flach-, Quer- und RĂĽckpass) sind Ausdruck jener protestantischen Neigung zur SelbstunterdrĂĽckung, die Max Weber als Grundlage des Kapitalismus beschrieben hat.

Gleichzeitig symbolisieren sie den Gemeinsinn des demokratischen Gesellschaftsmodells. Nur wer die Bälle teilt und umverteilt, gewinnt: Auch das kann die Welt von Europa lernen. Martin Helg

Grand-Hotels sind BĂĽhnen, auf denen sich die Geschichten der Geschichte am liebsten abgespielt haben. Sie bilden RĂĽckzugsorte fĂĽr Kopfarbeiter, sind Freigang fĂĽr alle, die sich zwischen den Zeiten gefangen fĂĽhlen und leuchten wie weisse Botschaften der Zivilisation an den KĂĽsten; sie transportieren die Essenz des Gestern und Heute, sind wunderbar aus der Zeit gefallen und haben somit auch kein Ende.

Die Welt könnte untergehen und man würde das im Lesesaal eines Grand-Hotels erst eine Woche später mitbekommen, durch die unaufgeregte Information eines Concierge. Ein nobler Versuch, Gelassenheit in den unvorhersehbaren Wahnsinn der Menschheit zu bringen. Sie bewahren längst vergessene Höflichkeiten und halten Berufe ausgestorbener Professionen am Leben.

Es liegt ihnen die gleiche Wahrheit zu Grunde, die auch einer Eckkneipe zu Grunde liegt, die seit Jahrzehnten von einem Ehepaar durch die Zeit gefĂĽhrt wird, das stolz darauf ist, heimatlosen Menschen fĂĽr ein paar Stunden ein Vaterland zu geben.

Was das bedeutet, wird erst im Ernstfall klar. Grand-Hotels überstehen Weltkriege und Besuche von Dieter Bohlen. Sie bilden Festungen, die am längsten widerstehen: das «Raffles» während des Falls von Singapur; der Speisesaal des «Westin Madrid» während des Spanischen Bürgerkriegs; das «Grand Hôtel du Cap-Ferrat» als Bunker eines Lebensgefühls zwischen den Kriegen. Wenn es hart auf hart kommt, ist das Gastrecht heilig.

Diese Häuser verströmen eine tiefe Sehnsucht nach einem kindlichen Glauben, dass alles gut kommt: kein Feind in der Nähe, der Tod umgänglich, die Gewissheit, dass irgendwo noch jemand wach ist und Europa lebt.

Man kommt nach Jahrzehnten wieder und alles ist so wie immer, und die gleichen Leute arbeiten und begrüssen einen, egal was war, wird und ist. Das ist Europas schönstes Schauspiel. Die Sommeliers tragen Fliegen, die Restaurantchefs schwarz, jemand spielt Klavier. Das tut, bei aller Vergänglichkeit, die uns umgibt, gut, denn nichts ist für immer, aber der Negroni an der Bar des Hotels «Hassler» mit Blick über Rom hat bisher immer wie immer geschmeckt. Das ist die Botschaft des Grand-Hotels, eine zeitliche Grenzenlosigkeit, eine Immerbereitschaft, Abend für Abend. Konstantin Arnold

Kleines Gedankenspiel: Angenommen, Grossbritannien wäre sein eigener Kontinent. Oder würde (mit Grönland und Kanada) von den Vereinigten Staaten von Trumperika einverleibt. Was bliebe von der europäischen Pop-Musik ohne Dua Lipa und Harry Styles, Oasis und Radiohead, Ed Sheeran und Adele? Eine Freak-Show namens Eurovision Song Contest!

Spätestens im Mai, wenn der ESC in Basel ausgetragen wird, können wir uns wieder Ohren und Augen reiben. So klingt das europäische Pop-Schaffen, so zieht es sich an! Das ist nicht schlimm und manchmal auch lustig. Aber wenn wir hier davon reden, was guten Pop aus Europa ausmacht, muss man sich schon fragen: Reicht es, dem amerikanischen Pop-Imperialismus, den wir so heiss lieben, einen Sound entgegenzusetzen, der sich wie ein Witz anhört?

Seit mehr als hundert Jahren sind die USA grösster Exporteur populärer Musik. In den zwanziger Jahren drehten die ersten Jazz-Platten auf unseren Grammophonen. In den Dreissigern tanzte man von Paris bis Berlin zu Charleston. In den Fünfzigern versetzte Elvis Presley die Welt in Ekstase. Die Beatles oder Stones gäbe es nicht ohne Chuck Berry und Little Richard. Anfang achtziger Jahre wurde Michael Jackson mit «Thriller» zum King of Pop gekrönt. Und so weiter.

Wenn wir in Sachen Pop nicht noch tiefer in die Bedeutungslosigkeit abdriften und Bands in Zirkus- oder Mittelalterkostümen zuhören wollen, müssen wir von den amerikanischen Künstlerinnen und Künstlern lernen. Nicht, indem wir ihre Musik imitieren, sondern ihr Geschichtsbewusstsein. Der amerikanische Pop schöpft bis heute aus seinen eigenen Quellen: dem Blues, Jazz, Country, Folk, Soul, Gospel, R&B, Rock’n’Roll, Hip-Hop. Wir in Europa dagegen konservieren unsere Tradition als Folklore oder spielen amerikanische Musik.

Der beste europäische Pop mit Leuchtkraft kam aber immer ganz tief aus den Eingeweiden des jeweiligen Landes: Falco, Nena, Rammstein, Gainsbourg, Gianna Nannini, Björk, Jovanotti, Stromae – sie alle bedienten sich ihrer Muttersprache, benutzten eigene Bilder und Bedeutungskulissen, die mit ihrer nationalen Identität verknüpft waren.

Wie autark europäischer Pop klingen kann, macht (wie so oft) einmal wieder Frankreich vor, auch wenn wir uns gerne über den Kultur- und Sprachprotektionismus unserer Nachbarn lustig machen (Ordinateur statt Computer, ha, ha): Die grossartige Zaho de Sagazan knüpft mit ihrem Elektro-Chanson eben nicht bei den Amerikanern an, sondern bei Barbara und Jacques Brel, mischt ihre Songs mit Kraftwerk auf und singt an ihren Konzerten «99 Luftballons». Was die Musikerin dem europäischen Musikfundus abtrotzt und damit ihr eigenes Klang- und Bühnenkleid entwirft, ist grosses europäisches Pop-Kino, welches auch in New York oder Tokio verstanden wird.

Die gute Nachricht: Zaho de Sagazan ist nicht allein! Weitere spannende Kandidatinnen und Kandidaten für den grossen europäischen Song-Contest, die Sie nicht am ESC hören werden, finden Sie auf unserer Spotify-Playlist: Make Euro Pop Great Again. Frank Heer

Noch so eine europäische Errungenschaft ist diese vermeintlich banale Freizeitbeschäftigung: herumspazieren, wandern, Berge rauf- und runtersteigen – eine oft unterschätzte Praxis, die nicht nur philosophisch, sondern auch politisch ist.

Aber nichts scheint selbstverständlicher als das Gehen auf zwei Beinen, seit unsere Vorfahren vor rund vier Millionen Jahren damit angefangen haben. Wanderlust hingegen ist eine relativ junge Erscheinung, denn im Mittelalter wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, freiwillig auf Berge zu steigen, die als lebensfeindlich galten und von Natur aus verdächtig waren. Zu Fuss ging, wer musste. Nomaden oder Händler, Pilger oder Soldaten, während Adlige Pferde hatten, Kutschen und Gärten, in deren Sicherheit sie lustwandelten. Warum sollte man sich der Wildnis auch freiwillig aussetzen?

Das änderte sich im 18. Jahrhundert, als Denker wie Jean-Jacques Rousseau – einer der geistigen Wegbereiter des modernen Europas – die Natur neu entdeckten: als Gegenwelt zu den wachsenden Städten mit ihrem Lärm, ihrem Dreck und all ihren Krankheiten. Rousseau wollte sich jenseits der Zivilisation geistige Freiräume zurückerobern und eine verloren geglaubte Ursprünglichkeit wiederfinden. Und er war nur einer von vielen Denkerinnen und Denkern, die Wandern als Mittel der Selbstfindung zu sehen begannen und Berge als Inbegriff von erhabenen Orten, an denen sich Endlichkeit und Unendlichkeit berühren. «Alle wirklich grossen Gedanken kommen beim Gehen», brachte es später Friedrich Nietzsche auf den Punkt.

Dass ausgerechnet die Europäer eine Kulturpraxis begründeten, die heute auf der ganzen Welt Mode ist, hat auch mit der Industrialisierung und den damit verbundenen sozialen Aufbrüchen im 19. Jahrhundert zu tun. Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften waren es, die sich in Grossbritannien, Frankreich und Deutschland als Erste geregelte Arbeitszeiten und Ferien erkämpften, Sonntagsruhe und somit auch das, was es zum Wandern braucht: Freizeit. Das Gehen hat folglich immer auch eine politische Dimension, so leicht das in einer Gesellschaft vergessen geht, die längst zu einer sitzenden geworden ist. Alpenklubs, Wandervogelbewegung, Wanderschilder, gelb, weiss-rot-weiss, weiss-blau-weiss – alles, was heute so selbstverständlich klingt, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe um Raum, Zeit und das Recht auf freies Gehen.

Und dieses Recht ist bis heute umkämpft, wie ein Blick nach England zeigt: Dort wollten sich sogenannte «Ramblers» schon im 19. Jahrhundert Zugang zu den aristokratischen Ländereien verschaffen. Bis heute darf sich das Volk jedoch nur auf etwa acht Prozent der Landfläche frei bewegen – der Rest ist in privatem Besitz, Betreten verboten. Carole Koch

In der Geschichte der Menschheit gibt es einige Konstanten: die Suche nach Sinn und Bedeutung, das Streben nach Fortschritt, die Liebe zur Kunst. Ebenso konstant ist die Neigung, uns von Zeit zu Zeit gegenseitig die Köpfe einzuschlagen oder mithilfe von ganz grossem Gerät zu Staub zu bomben.

Eine Ausnahme ist das westliche Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Es wäre wohl vermessen, uns als pazifistisch zu bezeichnen, aber verglichen mit der Kriegslust, die unsere Ahnen noch vor 100 Jahren an den Tag legten, wirken wir heute eher wie Gras rauchende Hippies. Aus gutem Grund: Wir haben gelernt, nicht zu vergessen.

Wer heute durch Deutschland geht, stolpert immer wieder über goldene Pflastersteine, die an den Holocaust erinnern. Frankreich errichtete allein nach dem Ersten Weltkrieg über 170 000 Denkmäler. Emblematisch ist das Bild des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand mit Bundeskanzler Helmut Kohl, wie sie 1984 Hand in Hand über den Gräbern von Verdun stehen.

Diese Kultur der Erinnerung ist eine europäische Besonderheit. In Spanien kämpft man nach Jahrzehnten des Schweigens mit einem speziellen Gesetz gegen das Vergessen der Franco-Diktatur. Im Kosovo treffen sich jedes Jahr Jugendliche aus albanischen, serbischen und Roma-Gemeinschaften zu einem Sommercamp. In Nordirland können Protestantinnen und Katholiken heute gemeinsam gärtnern, statt sich gegenseitig in die Luft zu sprengen.

Die europäische Erinnerungskultur ist mühsam und manchmal schmerzhaft. Sie verlangt, dass wir uns den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte stellen. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin, das Friedensmuseum in Belgrad oder die Gedenkstätte in Srebrenica – sie alle sind nicht nur Orte des Gedenkens, sondern auch des Lernens, des Verstehens und des möglichen Beginns einer Versöhnung.

Rechte Kräfte in Europa kritisieren heute diese Erinnerungskultur, sie sprechen von einer ewigen Rolle der Schuld, in der wir gefangen seien. Dennoch: Der regelmässige Blick in die Vergangenheit dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass es in Europa in den letzten Jahrzehnten relativ friedlich zugegangen ist. Denn wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Dennis Frasch

Wäre das Schlaraffenland ein Kontinent, er müsste Europa heissen. Zumindest, wenn es nicht nur um die Menge, sondern auch um die Vielfalt des Angebots an Speisen und Spezialitäten geht.

Das zeigt sich schon bei all den Würsten, die einem hier in den Mund fliegen. Etwa vierhundert Sorten davon gibt es allein in der Schweiz, auf dem ganzen Kontinent müssen es Tausende sein. Gar über siebenhundert Käsesorten sind allein hierzulande bekannt, europaweit muss es ein Mehrfaches sein. Mengenmässig gilt zwar Cheese made in the USA als Dominator der Käsewelt, aber das Sortenspektrum entspricht einem winzigen Bruchteil von jenem in Europa. Ganz zu schweigen vom europäischen Weinbau, dessen Vielfalt an Traubensorten die Rebberge in Amerika, Südafrika und Australien zur Marginalie verkommen lässt.

Der flächenmässig zweitkleinste aller Kontinente fällt durch die Vielfalt der Klimazonen auf, vom subpolaren Bereich bis zu den subtropischen Gebieten, von der Tundra bis zu den Alpen. Das ist die Basis für die Varietät an natürlichen Produkten, auf der wiederum der unerhörte Reichtum an regionalen Spezialitäten und Traditionen gründet. Grönland punktet mit Walfischhaut, während allein schon Siziliens Dessertauswahl weltweit ihresgleichen sucht. Natürlich spielen in letzterem Fall arabische Einflüsse mit, in Sachen Süssspeisen gilt der Orient als Vorreiter. Aber eine eigentliche Dessertkultur mit opulenten Nachspeisen, die erst nach dem Abräumen der Hauptgänge aufgetischt werden, wäre ohne die französischen Königshöfe nicht denkbar.

Klar, gibt es auch anderswo Länder mit eindrücklicher Vielfalt auf kleinem Raum. Peru etwa, das kulinarische Wunderkind Lateinamerikas, vereint fast alle Klimazonen dieser Erde, da werden gegen 4000 Kartoffelsorten angebaut. Aber gerade an der Kartoffel zeigt sich die Meisterschaft Europas, das sich auch von Immigrationswellen kulinarisch inspirieren liess, in der Adaption: Nachdem die spanischen Eroberer die Knolle im 16. Jahrhundert aus Südamerika importiert hatten, wurde sie den hiesigen Küchen einverleibt und inspirierte Rezepte, von Rösti bis zu Gnocchi. So ist Europa ein einziges, riesiges Delikatessengeschäft. Urs Bühler

Die Eisenbahn gehört zu den sichtbarsten Manifestationen des europäischen Gemeinsinns. Zuverlässiger wie nirgendwo sonst auf der Welt verbindet sie Dörfer, Städte und Länder – und lässt sich dabei selbst von Hindernissen wie unterschiedlichen Spurbreiten nicht stoppen. Damit zum Beispiel Reisende zwischen Frankreich und Spanien bequem sitzen bleiben können, werden ganze Züge auf die passenden Fahrgestelle umgebaut.

Ihre einende Kraft entfalten unsere Bahnen aber nicht nur räumlich, sondern auch sozial, indem sie in ihren Waggons Arm und Reich – nur oberflächlich nach Klassen getrennt – versammeln. Fahrpläne gelten für die Milliardärin wie den Sozialhilfeempfänger, und anders als in den USA gibt es keinen privaten Schienenverkehr für Wohlhabende, sondern das deutsche 58-Euro-Ticket, das Mobilität auch noch für die Ärmsten erschwinglich macht.

Die Menschenfreundlichkeit eines Eisenbahnnetzes kann man an der Anzahl Schienenmeter pro Quadratkilometer ablesen. Hier liegen die Schweiz, Tschechien und Belgien mit rund 120 Metern knapp vor Deutschland mit 108 Metern und den Niederlanden mit 90 Metern (zum Vergleich: USA und Indien 20 Meter, China 15 Meter, Russland 5 Meter). Und weil unser Kontinent auch beim Umweltschutz führend ist, sind weit mehr als die Hälfte seiner Bahnstrecken elektrifiziert, in der Schweiz sogar fast 100 Prozent (zum Vergleich: USA 1 Prozent).

Woher kommt dieser Vorsprung, obwohl die neue Technik aus dem Jahr 1830 leicht zu kopieren war? Wieder geht es um europaweit geteilte politische Strukturen und vor allem um «Werte und Mythen» (Yuval Noah Harari), auf deren Grundlage ein Eisenbahnnetz überhaupt erst gebaut werden konnte, konkret: um die modernen Wissenschaften und den Kapitalismus (beide ebenfalls in Europa erfunden). Harari: «Die Europäer lernten, wissenschaftlich und kapitalistisch zu denken und zu handeln, lange bevor sie einen spürbaren technischen Vorsprung daraus bezogen.»

So wurden Fabriken und Eisenbahnen zur Materialisierung eines über Jahrhunderte gewachsenen Fortschrittsdenkens – und wirken bis heute auf dieses zurück. Mehr noch: Im Zugabteil sitzen wir Miteuropäern gegenüber, deren Werte wir vielleicht teilen. Wir müssen nicht weit über unseren Schatten springen, um ins Gespräch zu kommen. Nicht die Jusos, sondern der garantierte Taktfahrplan rettet am Ende also den sozialen Frieden. Martin Helg

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