Hospiz-Ärztin über das Lebensende: "Der Tod ist uns wohlgesinnt"


A hospice doctor discusses the realities of death and dying, offering insights into the needs of the terminally ill and dispelling common misconceptions about end-of-life experiences.
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«Der Tod ist uns wohlgesinnt»: Hospiz-Ärztin über das Sterben

Sibylle Jean-Petit-Matile begleitet Menschen in ihren letzten Tagen. Sie sagt, was Sterbende wirklich brauchen, warum man auf dem Sterbebett nichts bereuen sollte und was sie vom Longevity-Hype hält.

Die Ärztin Sibylle Jean-Petit-Matile ist Mitinitiantin und Leiterin des Hospizes Zentralschweiz im Ortsteil Littau der Stadt Luzern sowie Vizepräsidentin des Dachverbandes Hospize Schweiz. Bild: Nadia Schaerli

Wer Sibylle Jean-Petit-Matile zuhört, vergisst schnell, dass es ums Sterben geht. Sie sprüht vor Energie. Ihre Stimme ist ruhig und warm, mal ernst, mal mit feinem Humor. Die Ärztin empfängt in ihrem Büro im Hospiz Zentralschweiz in Luzern, serviert Kaffee mit Hafermilch – und hält einem gleich zu Beginn des Gesprächs den Spiegel vor.

Erzählen Sie uns von diesem Ort.

Sibylle Jean-Petit-Matile: In unserem Hospiz gibt es zwölf Einzelzimmer. Letztes Jahr haben wir 165 Menschen begleitet, und die jüngste Person war 18 Jahre alt. Unsere Patienten sind zu komplex krank für ein Pflegeheim, und die Behandlung im Spital ist abgeschlossen. Also kommen sie zu uns ins Hospiz. Wöchentlich sterben zwei bis vier Menschen bei uns.

Ui.

Warum sagen Sie «ui»? Warten Sie, ich kann es Ihnen sagen. Das ist Ihre Angst. Ihre ganz persönliche Angst vor dem Tod. In unserer Gesellschaft ist das typisch. Alle sagen: «Ja klar, ich weiss: Der Tod gehört zum Leben.» Aber wirklich darüber sprechen will niemand. Und: Der Tod gehört nicht zum Leben, nur das Sterben gehört dazu. Der Tod ist das Ende des Lebens.

Wie offen sprechen Sie im Hospiz über den Tod?

Sehr offen. Ich spreche den Tod schon im ersten Gespräch mit Patientinnen und Angehörigen an. Viele Menschen sind im ersten Moment zurückhaltend und dann erleichtert, wenn das Wort «Tod» ausgesprochen wird. Und ich finde: Doch, genau das gehört dazu. Für die meisten stimmt das.

Oft beginnen sie schliesslich selbst, über den Tod zu reden, gerade auch mit anderen Patientinnen und Patienten. Wer nicht zu schwach ist, um sein Zimmer zu verlassen und noch essen mag, isst gemeinsam mit anderen. Da entstehen besondere Beziehungen. Gedanken und Gefühle über den Tod werden geteilt – das schafft Nähe.

Was haben Sie durch Ihre Arbeit als Sterbebegleiterin gelernt?

Die Frage ist falsch. Wir machen keine Sterbebegleitung – wir begleiten das Leben.

Dann formuliere ich es anders: Was haben Sie von Menschen am Lebensende gelernt?

Im Hier und Jetzt zu leben. Und dankbar zu sein für diesen Moment. Im unmittelbaren Jetzt steckt eine unglaubliche Kraft. Es ist egal, ob ich noch drei Atemzüge habe oder drei Millionen. Unsere Patienten wissen oft nicht, ob es ein Morgen gibt. Gerade deshalb erleben sie das Jetzt so intensiv und mit grosser Dankbarkeit. Und wissen Sie was: Auch Sie wissen nicht, ob es für Sie ein Morgen gibt. Diese Erkenntnis verändert etwas.

Hat sich Ihr Blick auf den Tod verändert?

Sehr. Es ist nicht so, dass ich keine Angst mehr habe. Aber ich habe nach rund 800 Begleitungen ein tiefes Vertrauen entwickelt: Nach dem Tod kommt etwas. Ich muss es nicht sehen, nicht beweisen. Aber ich spüre es. Es gibt Momente, die so magisch sind – da weiss ich: Das ist nicht alles gewesen.

Haben Sie ein Beispiel für einen solchen Moment?

Kürzlich starb eine Frau. Als ich sie besuchte, lag sie selig in ihrem geschmückten Bett. Sie war so schön zurechtgemacht. Ihre Ausstrahlung war noch im Tod so kraftvoll, dass der Raum zu leuchten schien.

Haben Menschen hier Angst vor dem Tod?

Das kann ich nicht pauschal beantworten. Manche kommen mit Angst und bleiben bis zum Schluss ängstlich. Andere legen sie schnell ab. Aber fast alle erleben eine tiefe Entspannung. Sie spüren: Hier hat man Zeit. Niemand setzt mich unter Druck, niemand verlangt etwas. Gleichzeitig fühlen sie sich wegen der Professionalität unserer Mitarbeitenden gut versorgt. Allein diese Ruhe und diese Entspannung lindern Schmerzen.

Fürchten sich gläubige Menschen weniger vor dem Tod als andere?

Darf ich zurückfragen: Was genau bedeutet «gläubig»? Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft verändert die individuelle Angst vor dem Tod nicht. Was hingegen sehr hilft, ist ein tiefer, innerer Glaube an eine konfessions- und religionsfreie Verbundenheit. Er bietet der Angst weniger Raum und lässt so Vertrauen wachsen. Und Vertrauen ist etwas, gegen das die Angst machtlos ist.

Wie gehen Sie mit letzten Wünschen Ihrer Patientinnen und Patienten um?

Wir versuchen vieles, um die letzten Wünsche zu ermöglichen. Selbst wenn es manchmal etwas Organisation verlangt. Eine schwerkranke Frau wollte nochmals auf den Grimselpass. Sie wurde mit der Wunsch-Ambulanz hingefahren. Es gab ein grosses Picknick zur Freude aller.

Eine Patientin wollte trotz kompletter Lähmung nochmals ins Schwimmbad. Das ging. Aber viele unserer Patienten sind zu schwach, um das Bett überhaupt noch zu verlassen. Ihre Wünsche sind anders. Sie drehen sich um sinnliche Wahrnehmungen. Zum Beispiel wünschte sich eine Person, nochmals eine angebratene Cipolatta zu essen.

Welche Worte richten Sie an die Angehörigen?

Zuerst frage ich, wie es ihnen in dieser Situation geht. Diese Frage wird Angehörigen oft nicht gestellt. Dabei kann sie viel auslösen. Ich danke ihnen auch für ihre Begleitung des Kranken und ihr Dasein. Das entlastet sie vom Gefühl, nicht bis zuletzt «durchgehalten» zu haben. Sie spüren, dass mit dem Eintritt ins Hospiz ihre Beziehung zum kranken Menschen wieder ins Zentrum rücken darf – frei von Pflicht.

Fällt das Loslassen von jungen Patienten schwieriger?

Man lässt einen geliebten Menschen, mit dem man tief verbunden ist, nicht «los». Egal, wie alt er ist. Man lässt ihn frei, im tiefen Verstehen dessen, was Liebe wirklich bedeutet. Einander Freiheit zu schenken, mindert den Schmerz nicht, aber es hilft, ihn besser zu verstehen. Das ist in jedem Alter wichtig. Das Sterben junger Menschen widerspricht unserem Verständnis der Natur. Es braucht Kraft und Mut, vom Sterbenden und den Angehörigen. Und von uns: Beistand und Trost.

Wie erleben Sie die berühmte Reue auf dem Sterbebett?

Reue ist ein schwieriges Wort. Was ist das überhaupt? Ich finde nicht, dass man etwas bereuen sollte. Man kann es ohnehin nicht mehr ändern. Fehler gehören zum Leben. Sie formen unsere Biografie. Kennen Sie die Legende der Teppichknüpfer im alten Persien? Sie fügten in jedes Werk absichtlich Fehler ein – als Zeichen dafür, dass durch den Fehler die Wahrheit ins Werk kommt. Das Leben und das Lebendige sind nicht perfekt.

Was tun Sie, wenn die Menschen auf dem Sterbebett diesen Fehler aber nicht akzeptieren wollen?

Dann höre ich zu. Zeige Verständnis. Ich sage: Ich verstehe, dass Sie das belastet. Aber ich kann die Welt der Sterbenden nicht schöner malen, als sie ist. Ich bleibe authentisch – auch wenn es anspruchsvoll ist.

Gibt es eine Geschichte aus Ihrer Arbeit, die Ihnen besonders nahegegangen ist?

Viele. Ich sammle sie wie Blumen in einem Strauss. Sie verwelken und werden zu Erde, aus der wieder Neues wachsen kann. Aber manche Geschichten bleiben in Erinnerung. Etwa der Mann, der sagte: ‹Ich schenke Ihnen mein letztes Lächeln.› Dann ging er. Wenn sich Menschen in ihrer verletzlichsten Phase des Lebens körperlich und seelisch öffnen, schafft das ein grosses Vertrauen und bereichert das eigene Leben. Und es gibt natürlich auch amüsante Geschichten bei uns im Hospiz.

Erzählen Sie.

Eine Pflegende ging kürzlich in der Nacht zu einer Patientin. Die Patientin erwachte und fragte: «Bin ich im Himmel?» Da antwortet die Pflegende, dass sie nicht im Himmel, sondern im Hospiz sei. Darauf die Frau: «Gut, dann will ich jetzt ein Rüebli!»

Ist bei Ihnen alles immer so friedlich?

Tatsächlich ist das Sterben ein zutiefst würdevoller Prozess. Der Tod ist uns wohlgesinnt. Trotzdem gibt es ganz wenige, das sind vielleicht ein Prozent, bei denen es schwierig bleibt bis zum Schluss. Sie sterben mit einem angespannten Gesicht.

Sehr selten gibt es auch schwierige Situationen im Alltag. Wenn Leute wegen ihrer Krankheit desorientiert sind, Angstzustände haben, Schmerzen, verzweifelt sind oder unglaublich traurig, kann es sein, dass sie aggressiv werden. Dann schreiten wir ein, um ihnen zu helfen und uns zu schützen.

Wie finanzieren sich Hospize in der Schweiz eigentlich?

Das ist ein leidiges Thema! Hospize sind auf Spenden angewiesen, um die Versorgung mit der stationären spezialisierten Palliative Care aufrechterhalten zu können. Wir benötigen eine gute Million Franken Spendengelder jedes Jahr. Da die Schweizer Hospize als «Pflegeheime» aufgelistet sind, entsteht den Patienten ein Privatkostenanteil wie in einem Pflegeheim. Vor allem für jüngere Patienten ist das ein Problem.

Warum?

Viele von ihnen haben zusätzlich eine Wohnung und allenfalls eine Familie mit Kindern, die sie finanzieren müssen. Das kann unbezahlbar werden. Die Stiftung Hospiz Zentralschweiz hat daher einen separaten Fonds, aus dem diese Privatkosten übernommen werden, wenn der Patient sie nicht selbst bezahlen kann.

Zehn Hospize in der Schweiz

In der Schweiz gibt es zehn Hospize, fünf weitere sind in Planung. Für Erwachsene gibt es heute drei mit dem «Gütesiegel Hospize Schweiz» zertifizierte Hospize mit 27 Betten. Fachleute gehen von einem Bedarf von 300 zertifizierten Hospiz-Betten aus.

Von den bestehenden Hospizen ist eines ausschliesslich für Kinder. Das Allani-Hospiz mit acht Plätzen wurde im August 2024 in Bern eröffnet. Ende 2025 soll in Zürich ein weiteres Kinderhospiz entstehen, das Flamingo-Kinderhospiz mit acht Pflegezimmern. Die Kinderhospizbewegung befindet sich damit noch ganz am Anfang. Gemäss aktuellen Studien gibt es in der Schweiz 10'000 Kinder und Jugendliche mit Bedarf an pädiatrischer Palliativ Care. Diese Zahl ist gemäss dem Dachverband Hospize deutlich höher als bisher vermutet und weiterhin steigend. (sny)

Warum hilft die Politik nicht?

Hospize haben keine starke Lobby. Zwar erhalten wir viel Wertschätzung – besonders vonseiten der Kantone. Aber wenn es um die Finanzierung geht, schieben die Kantone die Verantwortung an den Bund, und der wiederum zurück an die Kantone. So entstehen keine Lösungen, und die Versorgung bleibt weiterhin auf Spenden angewiesen.

Zwar gab es in den letzten zehn Jahren mehrere Vorstösse auf Bundesebene – passiert ist aber wenig. Manchmal frage ich mich fast schon ironisch: Müssen wir erst selbst in den Bundesrat, damit wir gehört werden? Immerhin geht es in einigen Kantonen vorwärts.

Wo zum Beispiel?

Der Kanton Wallis hat die Finanzierung seiner beiden Hospize übernommen. Es geht um zehn Betten im La Maison Azur in Sion und vier Betten im Hospiz HOPE in Ried-Brig. Dort bezahlen die Patienten keine Privatkosten mehr! Dieses Finanzierungsmodell ist in der kantonalen Walliser Gesetzgebung verankert und muss in der ganzen Schweiz Schule machen.

Zum Schluss möchte ich von Ihnen wissen, was Sie von der Longevity-Community halten? Der Gruppe um die Tech-Millionäre, die dem Tod den Kampf ansagen?

Schrecklich, eine Katastrophe. Das sind aus meiner Sicht Ego-Projekte. Die Seele ist unsterblich, das genügt. Alles andere ist der Versuch, sich in Technik zu flüchten und sich nicht mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Aber wenn wir den Tod ausschliessen, verlieren wir auch das Leben.

Wunsch und Reue am Lebensende

Die meisten sterbenskranken Menschen wünschen sich offene Gespräche über Diagnose, Prognose und Tod. Das zeigt eine Übersichtsarbeit des Palliativmediziners Sven Gottschling und der Psychotherapeutin Katja Welsch, die im «Deutschen Ärzteblatt» erschienen ist.

Früher galt, dass Offenheit mehr schadet als nützt. Heute weiss man: Ehrliche Kommunikation lindert Leid, hilft bei wichtigen Entscheidungen und entlastet Angehörige. Sie verbessert die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten – ohne das Leben zu verkürzen. Gottschling und Welsch fordern deshalb bessere Schulungen für Ärzte, Ärztinnen und Pflegende zur Kommunikation am Lebensende.

Laut einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf äussern zwei Drittel der unheilbar Erkrankten noch einen letzten Wunsch. Am häufigsten genannt werden demnach Reisen, Aktivitäten und der Wunsch, gesund zu werden. Auch der Wunsch, schmerzfrei zu sein oder Zeit mit Familie zu verbringen, kam häufig vor.

Auf dem Sterbebett tauchen aber auch Wünsche auf, die nicht mehr zu erfüllen sind. Die australische Palliativpflegerin Bronnie Ware hat in ihrem Bestseller «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» beschrieben, was Menschen am Ende ihres Lebens beschäftigt. Das Buch wurde in über dreissig Sprachen übersetzt. Die Sterbenden sagten demnach:

1. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, ein Leben zu führen, das mir selbst entspricht, und nicht das Leben, das andere von mir erwarten: Das war das häufigste geäusserte Bedauern. «Die meisten Menschen hatten nicht einmal die Hälfte ihrer Träume verwirklicht und mussten in dem Bewusstsein sterben, dass dies auf Entscheidungen zurückzuführen war, die sie getroffen oder nicht getroffen hatten», erzählte Bronnie Ware der britischen Zeitung «The Guardian».

2. Ich wünschte, ich hätte nicht so hart gearbeitet: Vor allem Männer äusserten diesen Satz. «Alle Männer, die ich pflegte, bedauerten zutiefst, einen so grossen Teil ihres Lebens in der Tretmühle des Arbeitslebens verbracht zu haben», so die Autorin Ware.

3. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken: Laut Bronnie Ware hätten viele ihrer Patientinnen und Patienten Krankheiten entwickelt, die mit der Bitterkeit und dem Groll zusammenhingen, den sie in sich trugen.

4. Ich wünschte, ich wäre mit meinen Freunden in Kontakt geblieben: «Jeder vermisst seine Freunde, wenn sie im Sterben liegen», so Ware. Die meisten hätten aber erst in den letzten Wochen ihres Lebens den vollen Nutzen alter Freunde erkannt. Nicht immer sei es möglich gewesen, diese nochmals aufzuspüren und zu treffen.

5. Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein: «Viele haben bis zum Schluss nicht erkannt, dass Glück eine Wahl ist.» Sie seien in alten Mustern stecken geblieben. «Aus Angst vor Veränderungen gaukelten sie anderen und sich selbst vor, zufrieden zu sein.»

Eine Studie der Universität Basel unter Leitung der Sozialpsychologin Selma Rudert relativiert die von Bronnie Ware aufgezeichneten Aussagen allerdings. Wer mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird, so berichten es die Forschenden im Fachjournal «Journal of Experimental Social Psychology», empfindet weniger Reue als andere Personen.

Das stützt die sogenannte Terror-Management-Theorie. Ihr zufolge wollen Menschen kurz vor dem Tod ihren Selbstwert schützen und steigern. Was die Basler Forschenden auch zeigen konnten und was aus der sozialpsychologischen Forschung bereits bekannt war: Menschen bedauern eher etwas, was sie nicht getan haben. Was man getan hat, wird weniger bereut. (sny)

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