Fehlende Selbstkontrolle, psychische Probleme, auf dem Entwicklungsniveau eines Kindes: Sind die Straftäter im offenen Vollzug die Vorboten dessen, was auf die Gesellschaft zukommt?
Die ländliche Schweiz wird gerne romantisiert als Reduit, wo das Leben noch in Ordnung ist. Und man kann es verstehen. Ein Tag im Spätwinter in Niederdorf, Kanton Baselland, weite Flächen, beruhigende Stille – und viel: nichts. Doch manchmal ist das nur eine entrückte Vogelperspektive. Bei näherer Betrachtung fällt ein Gebäudekomplex auf wegen seiner Andersartigkeit: der Arxhof, ein Massnahmenzentrum für junge Straftäter.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Wer als Verurteilter hier hinkommt, der bekommt eine Therapie, anstatt ins Gefängnis zu gehen, macht eine Lehre. Resozialisierung. Das liegt an einer Besonderheit des Schweizer Strafrechts, genauer am Artikel 61: Wer in «seiner Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört» und bei der Tat noch nicht 25 Jahre alt ist, der kann anstatt zu einer Haftstrafe zu dieser Massnahme verurteilt werden.
Der Arxhof, wie auch die anderen Massnahmenzentren in der Deutschschweiz – Uitikon in Zürich, Kalchrain im Thurgau –, ist eine respektierte Institution. Seit über fünfzig Jahren. In jedem Text, der über den Arxhof erscheint, darf ein Wort nicht fehlen: Erfolgsgeschichte.
Seit diesem Jahr ist das anders, muss ein düstereres Kapitel hinzugefügt werden. SRF titelte über eine Reportage: «Massnahmenzentren kämpfen mit Verrohung bei jungen Straftätern». Wie soll darauf reagiert werden? Der Steuerzahler investiert schliesslich etwa 750 000 (Arxhof) bis eine Million Franken (Uitikon) für einen verurteilten Straftäter.
Francesco Castelli sitzt im Essbereich für die Mitarbeiter des Arxhofs, nichts deutet auf Probleme hin, viele Lehrlinge, entspannte Ambiance. Fast ein bisschen Lager-Feeling. Castelli ist der Direktor des Massnahmenzentrums. Er mag die Szenerie aber nicht verklären. Er sagt: «Es hat sich hier viel verändert. Und das in kürzester Zeit.» Nicht zum Guten.
Castelli hatte seinen Job vor vier Jahren gerade erst angetreten, als zwei Eingewiesene einen Mitarbeiter brutal angriffen. Seither gilt, was «vor fünfzehn Jahren noch undenkbar» war: Rund um die Uhr sind auf dem Arxhof zwei Sicherheitsmänner im Einsatz. «Ohne geht es nicht mehr.»
Das ist nicht die einzige gravierende Neuerung. Bis vor wenigen Jahren war der Arxhof perfekt auf die Bedürfnisse eingestellt: Dreissig Plätze gab es in der offenen Abteilung, acht in der geschlossenen für die besonders schweren Fälle. Das Verhältnis könnte sich bald umkehren. Immer mehr werde von den Behörden nach geschlossenen Plätzen verlangt. Wie viele der Arxhof anbieten kann, wird derzeit abgeklärt.
Castelli hat sich aber bereits angepasst und einen der bisher offenen Wohnpavillons in einen Übergangspavillon umgewandelt. Dieser zeichnet sich durch ein vornehmlich pädagogisch «hoch strukturiertes Angebot», aber auch durch zusätzliche bauliche Sicherungen aus. «Das ist die Realität. So ehrlich müssen wir sein.»
Die Realität ist die folgende: Schwere Angriffe auf Mitinsassen, aber vor allem auf Mitarbeiter haben zugenommen. Millionen werden in den Massnahmenzentren nun in die Sicherheit investiert. Auch in Uitikon und im Kalchrain. Bevor es Tote gibt? Das scheint bereits zu nützen, zumindest im Arxhof. Castelli sagt: «Seit der Inkraftsetzung des neuen Sicherheitskonzepts ist bei uns nichts mehr passiert.»
Es gibt Gründe, warum sich die Lage verändert hat. Die Straftäter werden immer jünger, sie sind psychisch vorbelasteter, sie haben geringere kognitive Fähigkeiten und schlechtere Deutschkenntnisse. Das Resultat: Die Gewaltbereitschaft ist höher, die Selbstkontrolle ist massiv gesunken.
In einem Massnahmenzentrum findet man ein gesellschaftliches Kondensat. Junge Männer, die auch Vorboten einer künftigen Wirklichkeit sein könnten. In der vermeintlich heilen Normalität. Denn draussen gilt: Junge Männer begehen weltweit die meisten Gewaltverbrechen. Körperverletzung, Raub, Mord.
Unter den jungen Männern mit Gewaltproblemen sind Ausländer überproportional vertreten. Im Arxhof betrug der Ausländeranteil vor drei Jahren noch etwa ein Drittel, in den letzten beiden Jahren jeweils 50 Prozent. Davon waren weniger als die Hälfte bis zu drei Viertel keine EU-Bürger. Dabei machen Ausländer aus Drittstaaten nur 9 Prozent der Schweizer Bevölkerung aus.
Castelli sieht die Nationalität für die gestiegene psychische Belastung und damit einhergehende höhere Gewaltbereitschaft im Arxhof allerdings nicht als «entscheidenden Treiber». Er vergleicht das mit dem höheren Ausländeranteil in den Schweizer Gefängnissen: «In diesen beträgt der Ausländeranteil bis zu 70 Prozent. Bei uns lag er in den letzten Jahren zwischen 33 und 50 Prozent.»
Zudem habe man in den vergangenen drei Jahren keinen einzigen Jugendlichen aus einem Maghreb-Staat gehabt, während die Gefängnisse in der Region «viele aus dem Maghreb hatten». Dies habe sicherlich damit zu tun, dass Flüchtlinge aus diesen Ländern nicht in der Schweiz bleiben dürften – und deshalb seitens Behörden nicht in eine Massnahme investiert werde.
Frank Urbaniok hat als forensischer Psychiater Tausende von Straftätern gesehen: «Diese Zahlen wundern mich nicht – und natürlich muss man die Herkunftsfrage stellen.
Noch immer gilt zwar: Die meisten Zuwanderer sind ein Gewinn. Es gibt aber auch diejenigen, die nicht integrationswillig oder -fähig sind.» Man dürfe die Fakten nicht dehnen, nur weil man glaube, dass man den Menschen die Wahrheit nicht zumuten könne. Und diese zeige, dass auch bei der Jugendkriminalität in der Schweiz Täter aus bestimmten Herkunftsländern stark überrepräsentiert seien. «Darum ist der Anteil mit Migrationshintergrund hoch. Hier spielen kulturelle Prägungen eine entscheidende Rolle, die auch bei den nachfolgenden Generationen mit Schweizer Pass nicht einfach verschwinden. Das ist unangenehm und wird deswegen ungern thematisiert.»
In einem Massnahmenzentrum sehe man diese Entwicklung deutlich, sagt Urbaniok, «aber sie wird auch in der Gesellschaft immer ersichtlicher: Mittlerweile ist sogar auf Notfallstationen vielfach Sicherheitspersonal notwendig.»
Auch in den Schulen und im öffentlichen Raum zeige sich eine zunehmende Gewaltbereitschaft. Noch sei es in der Schweiz noch nicht so schlimm wie in Deutschland, und auch hier sei es auch früher nicht nur rosarot gewesen (wie etwa bei den offenen Drogenszenen). Dass ein Massnahmenzentrum heute Gefängnischarakter habe, sei aber neu. «Und die Migration spielt da eine entscheidende Rolle.»
Was ist los mit diesen jungen Männern, was ist schiefgelaufen? Ein Mann, der diese Veränderung statistisch festgehalten hat, ist Andreas Wepfer. Er ist der Leiter des Massnahmenzentrums Kalchrain. Er spricht ruhig über seine Erkenntnisse, als wäre er ein unbeteiligter Statistiker, aber was er erzählt, ist eindringlich. Die Zahlen sprächen «leider» eine klare Sprache, sagt er. Innerhalb von nur einer Dekade ist das Durchschnittsalter beim Eintritt ins Kalchrainer Massnahmenzentrum von über 21 Jahren auf unter 19 gesunken.
Besonders drastisch ist die Abnahme des psychosozialen Funktionsniveaus: Betrug der Wert vor zehn Jahren noch knapp minus 4, ist er jetzt bei minus 5,5 angekommen. Das bedeutet, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man eine Türe schliesst oder guten Tag sagt. Erwachsene Männer, auf dem Entwicklungsniveau eines Kindes. Mit einer kurzen Zündschnur.
Dass auch Wepfer sagt, dass man deswegen eigentlich nur noch Plätze in der geschlossenen Abteilung brauchte: Wen wundert’s? Eine Überforderung des Systems. Die Grenze des Machbaren ist für viele Institutionen überschritten.
Da überrascht eine weitere Kennzahl wenig: Kam ein Straftäter früher in ein Massnahmenzentrum, war er zuvor durchschnittlich in zwei Institutionen – beispielsweise in einem Heim – untergebracht. Die Zahl dieser Vorplatzierungen hat massiv zugenommen: Heute sind es rund zehn. Eine Verfünffachung in der kurzen Zeit eines Jahrzehnts. Der Rekordhalter: Dreissig Institutionen in nur drei Jahren.
Dass sich der Weg eines Straftäters aber schon vorher in Richtung eines Abstellgleises bewegt hat, wird auch in den Jugendheimen ersichtlich. Zwei Einzelfälle haben im letzten Jahr für viele Schlagzeilen gesorgt: Im Landheim Brüttisellen in Bassersdorf hat ein 19-jähriger Pakistaner zwei Mitarbeiterinnen mit einem Messer im Gesicht schwer verletzt. Und in Albisbrunn wurde eine Angestellte von einem Angolaner so schwer verletzt, dass sie mit einem Rettungshelikopter ins Spital geflogen werden musste. Der Täter war erst 16 Jahre alt.
Philipp Eder ist der Leiter des Jugendheims Albisbrunn – und Präsident der Vereinigung Deutschschweizer Jugendheimleitungen (zu denen auch die Massnahmenzentren zählen). Er sagt: «Diese beiden gravierenden Vorfälle haben in der Szene durchaus einen Stein ins Rollen gebracht. Die gegenwärtige Entwicklung ist unser grosses Thema in diesem Jahr. Wir brauchen Untersuchungen und Statistik. Das gehen wir nun an.»
Was Eder meint: Er könne nur darüber sprechen, was er mit über zwanzig Jahren Erfahrung erlebe, er wolle nun Fakten durch Zahlen – damit Objektivität gewährleistet und Zusammenhänge dargestellt werden könnten. Er sagt aber auch: «Bei uns landen die Jugendlichen, die die Gesellschaft ausschliesst. Wir beobachten in der Gesellschaft zunehmend einen Strukturzerfall. Dies hat auch auf unsere Arbeit Auswirkungen. Das bedeutet auch, dass in den Jugendheimen die Sicherheit eine zentrale Rolle einnimmt.»
Auch im Albisbrunn gibt es nur junge Männer. Die psychischen Diagnosen bei den Jugendlichen haben stark zugenommen, ebenso der Mischkonsum (beispielsweise Alkohol mit Cannabis oder Ecstasy mit Kokain). Das psychosoziale Funktionsniveau sei – wie in den Massnahmenzentren – tiefer als früher.
Und es gibt, salopp gesagt, nicht mehr nur die Schläger, sondern auch Jungs, die sich ritzen, depressiv und sogar suizidal sind, deswegen immer weniger arbeiten können. «Das beobachtete ich früher in den Berufsbildungsheimen viel weniger», sagt Eder. Dazu komme eine massive Zunahme an Traumata, die nicht nur viele unbegleitete minderjährigen Asylsuchende, sondern auch ganz viele andere Jugendliche hätten. Bis diese normal in den Dialog miteinander treten könnten, «muss lange geübt werden», sagt Eder.
Und Eder sagt: «Wenn wir in unserem hochprofessionellen Rahmen diese jugendlichen Menschen nicht betreuen können, dann kommt es nicht gut.» Eder sieht die Herausforderung, dass das in Zukunft tatsächlich schwieriger werden könnte. «Wenn heute geschlossene Systeme – ausserhalb der Massnahmezentren – bereits Anfragen zur Unterbringung ablehnen, haben wir ein Systemproblem.»
Diese Plätze werden immer weniger, wie Wepfer am Beispiel Zürich erforscht hat: In den letzten zwanzig Jahren wurde das stationäre Angebot für Jugendpsychiatrie verdoppelt, während gleichzeitig das sozialpädagogische Platzangebot – wie Heimplätze – nachweislich reduziert wurde. «Das ist eine schlechte Entwicklung», sagt Wepfer. Im gleichen Zeitraum haben sich die Neuberentungen von jungen Erwachsenen verdreifacht. «Ein weiteres Zeichen, dass immer mehr junge Erwachsene nur schwer in die Gesellschaft integrierbar sind.» Diese «Psychiatrierung» sei wenig nachhaltig.
Frank Urbaniok findet, dass es weiterhin solche Institutionen brauche. Was er jedoch auch sagt: Die Erfolgsquote sei okay, mehr aber auch nicht. Die Bilanz bei schweren Straftaten liest sich so: Ein Drittel der Klienten wird erneut mit einem schweren Delikt straffällig. Ein Drittel begeht Bagatelldelikte wie Diebstahl oder Schwarzfahren. Und ein Drittel kommt nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt.
Ist das viel, ist das wenig? Urbaniok sagt: «Die Massnahmenzentren mussten sich schon immer neuen Herausforderungen anpassen und sich verändern. Das wird auch in Zukunft so bleiben.» Was er sich noch mehr wünscht und wo er Potenzial sieht: die Auslese, die Prüfung. Wem bringt ein Aufenthalt in einem Massnahmenzentrum etwas? Wer ist dafür vielleicht zu gewaltbereit oder zu uneinsichtig? «Der nimmt einem anderen den Platz weg . . .»
Auch Francesco Castelli sagt, dass es kontraproduktiv wäre, nichts mehr zu tun, die jungen Männer also «einfach wegzusperren» und «sich selber zu überlassen». Man müsse sich bewusst sein: «Irgendwann kommen sie auf freien Fuss – wenn man in der Zeit des Vollzugs nicht mit ihnen arbeitet, dann werden sie sehr wahrscheinlich noch auffälliger sein als zuvor, und die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Opfer produziert werden, potenziert sich.» Der Direktor des Massnahmenzentrums in Uitikon hat kürzlich im «NZZ Folio» gesagt, dass diese Männer potenzielle Nachbarn seien. Darum kann man sich schon fragen: Wie gut sollen sie vorher behandelt worden sein?
Skip the extension — just come straight here.
We’ve built a fast, permanent tool you can bookmark and use anytime.
Go To Paywall Unblock Tool