AboAktivistinnen für Frieden –
Der Nahostkonflikt könnte längst beendet sein – wenn diese Frauen das Sagen hätten«Unsere Führer wollen keinen Frieden. Wir wollen einfach ein normales Leben»: Sechs Gespräche mit Frauen aus Israel und Palästina, die gemeinsam für Versöhnung arbeiten.
Andrea Fischer Schulthess(Das Magazin)
Publiziert: 25.04.2025, 09:01Es begann mit einem Lied. Am Mittag des 7. Oktobers 2023 – noch während der Hamas-Attacke auf Israel – schickte mir meine Tochter, die damals in Jerusalem studierte, «Prayer of the Mothers». In der Friedenshymne der israelischen Sängerin und Aktivistin Yael Deckelbaum von 2016 besingen palästinensische und israelische Mütter gemeinsam die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft für ihre Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft und Geschichte.
Der Song hat mich seither nicht mehr losgelassen, ebenso wenig wie zwei der Frauenorganisationen, die intensiv an der Umsetzung dieser Vision arbeiten: Women of the Sun (WOS) und Women Wage Peace (WWP). WWP wurde 2014 gegründet, und heute setzen sich dort 50’000 israelische Frauen, Jüdinnen und Araberinnen, für den Frieden ein.
Die palästinensische Schwesterorganisation WOS gibt es seit 2021 und hat rund 3000 Mitglieder. Die grosse Mehrheit davon lebt im Westjordanland, etwa zehn Prozent in Gaza.
Gemeinsam setzen sie sich für eine friedliche Koexistenz von Israelis und Palästinenserinnen und Palästinensern ein, auch nach dem 7. Oktober und trotz der Tatsache, dass persönliche Treffen der Organisationen derzeit praktisch unmöglich sind. Für ihr Engagement wurden sie mehrfach ausgezeichnet und sowohl 2024 wie auch 2025 für den Friedensnobelpreis nominiert.
Die Friedensforschung ist sich mittlerweile einig: Frauen verhandeln anders – nachhaltiger und konsensorientierter. Trotzdem wird ihrer Rolle als Friedenswächterinnen und in der Prävention von Extremismus sowie der nachhaltigen Befriedung in Kriegsgebieten noch immer viel zu wenig Rechnung getragen.
Woran liegt das? Wer sind diese Frauen? Und woher nehmen sie den Glauben an eine gemeinsame Zukunft? Zeit für einen Besuch. Etliche Monate und vergebliche E-Mails, Instagram-Nachrichten und Anrufe später klappt es endlich, und ich darf vor Ort einige Tage mit je drei Frauen von WWP und WOS mit ausgiebigen Gesprächen verbringen. Letztere treffe ich ausschliesslich im Hauptquartier der Organisation im Westjordanland, da eine Zusammenkunft in privaten Räumen für die palästinensischen Aktivistinnen zu gefährlich wäre.
Wir sitzen im Büro von Reem, der Leiterin von WOS. Das Hauptquartier der Organisation liegt in einer schlicht eingerichteten Wohnung im vierten Stock irgendwo in Bethlehem. Es ist vollgestellt mit Sofas und Schreibtischen, es herrscht ein Gewusel an Frauen mit und ohne Kopfbedeckung sowie einigen Männern, unablässig klingeln Telefone.
An der Wand zeigen Livekameras den Eingangsbereich und das Treppenhaus. Vor uns auf dem niedrigen Tisch steht ein Tablett mit dampfenden Teetassen und Keksen. Die Fensterjalousien sind heruntergelassen, zwischen den Lamellen sieht man mehrere Gebäude der Palästinensischen Autonomiebehörde und ihrem Geheimdienst.
Reem sitzt hinter ihrem mächtigen Pult, vollgestellt mit internationalen Preisen, unter anderem dem Diane von Fürstenberg Leadership Award oder dem Hillary Clinton Award. Auf dem Couchtisch liegt eine Ausgabe des «Time Magazine», das sie 2024 zu einer der «Women of the Year» gekürt hat.
Seit dem Krieg ist sie eine international gefragte Frau und hält gemeinsam mit Vertreterinnen von WWP Vorträge in aller Welt, was für sie als Palästinenserin voller Hindernisse ist. Wie alle Frauen von WOS lebt sie mit der ständigen Bedrohung, für ihre Aktivitäten, die von der Mehrheit als zu proisraelisch und ergo palästinafeindlich aufgefasst werden, angefeindet oder verhaftet zu werden.
«Meine Familie wurde 1948 während der Nakba – wie wir die Vertreibung aus Israel nennen – aus dem Dorf Beit Jibrin verjagt. So sind wir im Flüchtlingslager in Bethlehem gelandet. Wie so viele haben auch wir noch immer den Schlüssel zu unserem Haus von damals. Er ist enorm wichtig für uns Vertriebene, denn er symbolisiert das international geltende «Recht auf Rückkehr», das vererbbare Recht, als Flüchtlinge in unsere angestammten Häuser zurückzukehren. Ich weiss, dass das nicht realistisch ist, aber die Sehnsucht nach unseren Wurzeln steckt in unseren Genen.
Das Interesse an Politik hat mir mein Vater mitgegeben. Mit sechzehn war er im Gefängnis und wurde gefoltert. Nach seiner Entlassung hat er sich für den friedlichen Weg entschieden. Ich war noch klein, als ich die Narben an ihm entdeckt habe. Ich wollte alles darüber erfahren, und er hat mir viel erzählt. Von ihm habe ich den Glauben, dass Gewalt keine Lösung ist. Sie bringt nur weitere Gewalt mit sich.
Nach dem Studium habe ich in allen möglichen Berufen gearbeitet, aber mich nirgendwo wiedergefunden. In jener Zeit, nach der zweiten Intifada, wollte ich möglichst viele Standpunkte kennen lernen. Aber ich war nie in einer Partei. Ich wollte selbst etwas erschaffen, das mir entspricht. Daher habe ich Women of the Sun gegründet.
Mein Vater ist sehr stolz auf meinen Weg. Mit meinem Mann ist es anders. Wir wurden traditionell verheiratet, und er stammt aus einer sehr altmodischen Familie. Mein Schwiegervater sagte: ‹Die ruiniert uns. Sie sitzt mit den Männern, sie diskutiert und streitet mit ihnen. So etwas tun wir bei uns nicht.› Aber ich bin mir stets treu geblieben. Mein Mann und ich leben heute beide unser eigenes Leben.
Den grössten Einfluss auf meinen Werdegang hatte mein Sohn. Als er dreizehn war, wurde sein bester Freund von den Israelis getötet. Er bekam starke Depressionen, und ich begriff, dass ich ihm nun ganz nah sein musste. Ich begann, ihn überallhin zu begleiten, damit er keine Rachegedanken entwickelt. In den Camps habe ich immer wieder erlebt, dass die Freunde von Märtyrern ihnen auf diesem Pfad folgen. Zudem werden sie von den israelischen Soldaten provoziert, denn diese kommen regelmässig in die autonomen Sektoren und greifen uns an. Es wird immer gewalttätiger, und trotzdem versuche ich, die Jungen zu bremsen.
«Ich kämpfe, damit wir Frauen an die Verhandlungstische geholt werden.»
Reem Al-Hajajreh, Palästinenserin
Denn als Mutter weiss ich: Es gibt nur eine Lösung für unsere Kinder und ihre Zukunft. Wir müssen uns gemeinsam mit den Israelis an den Tisch setzen und verhandeln. Mir ist klar, dass Israel das nicht will. Und auch viele Menschen in der palästinensischen Gesellschaft und Autonomiebehörde glauben nicht an unseren Weg. Sie sehen uns als Verräterinnen, weil wir mit WWP arbeiten.
Alles ist jederzeit möglich – dass sie mich exekutieren oder WOS verbieten und unsere Gelder beschlagnahmen. Daran ändert auch nichts, dass wir seit Kriegsausbruch international viele Preise gewonnen und Aufmerksamkeit bekommen haben. Leider hat das kaum Wirkung auf unseren Alltag. Man lobt unsere Arbeit, nimmt unsere Inputs entgegen, aber es folgen keine Taten. Dabei spreche ich immer sehr offen und bitte darum, die Waffenlieferungen einzustellen und die Milliarden stattdessen in Frieden zu investieren.
Ich kämpfe, damit wir Frauen endlich in die Prozesse eingebunden und an die Verhandlungstische geholt werden. Ich will, dass alle begreifen, dass wir das Recht haben, als Volk hier zu sein und als gleichberechtigte Menschen zu leben.
Wir wollen einfach ein normales Leben. Dafür müssen die Regierungen auf beiden Seiten ihr Volk fragen, was es will. Denn es sind unsere Führer, die keinen Frieden wollen, nicht wir. Bei WOS hingegen arbeiten wir aus dem Herzen der Gesellschaft heraus. Die Kraft dazu kommt von meinen Kindern und von den Frauen, die ich täglich um ihre Kinder weinen sehe. Es gibt keine Alternative zum Frieden. Sonst sterben wir.»
In der Nähe von Netanya liegt ein kleiner Moschaw, der 1937 von griechischen Juden gegründet wurde. Mittlerweile leben in dieser genossenschaftlichen Siedlung nur noch wenige von der Landwirtschaft. Der Ort wirkt zeitlos verschlafen und vom Umbruch und der Gewalt im Land bekommt man höchstens in persönlichen Gesprächen etwas mit.
Im geräumigen, hellen Haus der Alons wähnt man sich fast in der Schweiz, wären da nicht die üppigen Agrumen-, Avocado- und Mangobäume und die exotischen Vögel, die auch im Winter lautstark im subtropischen Dickicht des Gartens pfeifen und krächzen.
«Ich bin in Thun in einer protestantischen Familie aufgewachsen. Schon früh wollte ich aus dieser kleinbürgerlichen Welt ausbrechen und bin viel gereist. In Amsterdam habe ich auf der Strasse meinen jetzigen Mann kennen gelernt. Ich wagte den Versuch und zog zu ihm nach Israel.
Da ich nicht jüdisch war, konnte ich nicht einfach einwandern. Also habe ich mich an der Universität eingeschrieben und erhielt so jedes Jahr ein Studentenvisum. Ich habe Hebräisch gelernt, Geografie studiert und bin konvertiert. Dann haben wir geheiratet. Meine Mutter tat sich sehr schwer damit. Das Judentum und damit auch meine jüdische Familie blieben ihr bis an ihr Lebensende fremd. Das war sehr schmerzlich für mich.
Damals in den Achtzigerjahren war Israel noch ein friedlicheres Land. Das Westjordanland war zwar bereits besetzt, aber die Polarisierung zwischen rechts und links und religiösen und nichtreligiösen Juden begann erst in den Neunzigerjahren. In jenen ersten Jahren lebten wir in einem kleinen Ort südlich von Tel Aviv mit vielen sozialen Spannungen zwischen aschkenasischen und orientalischen Juden. Als es für die Kinder immer schwieriger wurde, sind wir dann in diesen Moschaw hier gezogen – einen Monat vor der zweiten Intifada.
Diese Zeit war sehr bedrohlich, überall herrschte nur noch Misstrauen. Man wusste nie, wann und wo etwas passiert. Als unsere Jüngste sich eines Tages weigerte, ins Auto zu steigen, aus Angst davor, dass auf der Hauptstrasse ein Bus explodieren könnte, wollte ich nur noch zurück in die Schweiz. Aber was hätten wir dort getan? Also sind wir geblieben.
«Wir müssen die Selbstzerstörung stoppen, an der beide Völker festhalten.»
Regula Alon, Israelin
2010 habe ich mich zur Reiseleiterin umschulen lassen und bin ab da berufsbedingt viel im Land herumgekommen. Damals kam ich zum ersten Mal wirklich in Kontakt mit der palästinensischen Bevölkerung. Auf Wanderungen durch arabische Dörfer kamen uns die Kinder entgegen, und wir wurden freundlich begrüsst. Da kam schon Scham auf, und ich habe mich gefragt, warum haben wir das vorher nie getan?
Ich habe damals sehr viel gelesen, um den Nahen Osten besser zu verstehen. Hier blicken alle ständig in die Vergangenheit zurück. Auf beiden Seiten. Auch wenn das jetzt vielleicht ein typisch europäischer Ansatz ist, finde ich doch, dass wir lieber überlegen sollten, wie wir weitergehen und den selbstzerstörerischen Prozess stoppen können, an dem beide Völker festhalten. Seit dem 7. Oktober können wir auch nicht mehr wegschauen und so tun, als ginge es uns nichts an.
Zu WWP kam ich durch meine jüngste Tochter. Wir wollen möglichst breit aufgestellt sein und haben auch fromme Frauen und Siedlerinnen in unseren Reihen. Daher stellen wir uns nicht offen hinter eine bestimmte Lösung. Auch Begriffe wie «Besatzung» oder «Siedlungen» benutzen wir bewusst nicht. Aber klar, im Falle von Verhandlungen werden wir diese Themen konkret angehen müssen. Es gibt sehr viele Lösungsansätze und -vorschläge. Sie müssen für beide Seiten stimmen.
Lange hat man den Konflikt einfach verwaltet. Eine unserer Gründerinnen, Vivian Silver, hatte schon lange davor gewarnt, dass es nicht so weitergehen könne, weil es sonst zu einer Explosion kommen würde. Aber niemand hat zugehört. Sie lebte im Kibbuz Be’eri und wurde am 7. Oktober getötet.
Unsere Zusammenarbeit mit WOS stand auch nach dem Terrorangriff nie zur Debatte. Natürlich werden wir deshalb oft als Verräterinnen oder als naive Träumerinnen tituliert, aber für die Frauen von WOS ist es noch viel schwieriger und gefährlicher, weiterhin mit uns zusammenzuarbeiten.
Nach dem Anschlag hat man im Ausland angefangen, unsere Arbeit ernst zu nehmen. Wir haben Hillary Clinton getroffen, Meryl Streep hat über uns gesprochen, die Clooneys und auch Oprah Winfrey. Aber hier will weiterhin niemand über Frieden reden. Unsere Regierung hat gar keinen Plan dafür.
Durch die Begegnungen mit WOS hat sich mir eine völlig neue Welt aufgetan. Man hört einander zu. Hier sind die Wurzeln des Judentums, des Christentums und des Islam. Also müssen wir überlegen, wie man allen Zugang zu den heiligen Stätten gewähren kann. Die Grabeskirche in Jerusalem ist ein gutes Beispiel dafür, wie das möglich ist. Dort teilen sich sechs Konfessionen eine Kirche, man hat einen sehr detaillierten Plan ausgearbeitet, wer wann welche Verpflichtungen und Rechte hat.
Dass der Krieg so lange dauern kann, liegt daran, dass Netanyahu und seine Regierung die Verhandlungen im Sand haben verlaufen lassen, um an der Macht zu bleiben. Und die Hamas tut genau dasselbe. Solchen Machtmenschen, die sich nicht ums Fussvolk kümmern, vertraue ich gar nicht. Wenn jetzt nicht endlich ein Umdenken stattfindet, stehen wir wieder am gleichen Punkt wie am 6. Oktober.
Ich bin zudem zunehmend in Sorge, dass Israel zu einer faschistisch-theokratischen Diktatur wird. Dann würde ich definitiv wieder in die Schweiz zurückkehren. Das will ich jedoch auf keinen Fall. Meine Kinder und meine Enkelkinder leben hier. Darum engagiere ich mich weiterhin so beharrlich für Frieden.»
Wir sitzen in Reems Büro, die Türe steht offen, im Hintergrund zwitschern die beiden Büro-Wellensittiche unablässig vor sich hin, und immer wieder kommt jemand herein, um etwas zu fragen. M. möchte ihren Namen und ihr Alter aus Sicherheitsgründen nicht publik machen. Das passt zu ihrer besonnenen, gelassenen Art und der Kraft, die von ihr ausgeht, wenn sie mit bedächtigen Worten und Handbewegungen über ihr Leben und ihre Arbeit als Organisatorin im Hintergrund erzählt.
«Am Morgen fühle ich mich meist stark und unabhängig, am Abend ist das manchmal weg. Wenn ich heimgehe, habe ich noch meinen zweiten Job als Frau und Mutter und später noch Zoom-Meetings. So ist das eben. Wir Frauen sind für andere Menschen verantwortlich.
Die Israelis sehen uns Palästinenser als Terroristen, und der gegenseitige Hass ist für viele ein Business. Auf beiden Seiten. Damit kann man Waffen verkaufen. In meiner Familie hat Gewalt überhaupt keinen Platz. Es wird alles ausdiskutiert. So soll es sein. Denn es wäre so wichtig, dass wir uns gegenseitig begegnen könnten, um uns besser zu verstehen.
«Wer arm ist, ist unsicher, wütend und wird eher gewalttätig.»
M. H., Palästinenserin
Auch nach dem 7. Oktober blieben wir dran, auch wenn alles viel schwieriger geworden ist. Wir können uns nur noch online austauschen, und viele Palästinenser haben ihre Jobs in Israel und hier verloren. Wir dürfen uns nicht mehr frei innerhalb des Westjordanlands bewegen.
Man versucht, uns zu schwächen, indem man uns alles nimmt und uns arm hält. Denn wer arm ist, ist unsicher, wütend und wird eher gewalttätig. In guten wirtschaftlichen Verhältnissen hingegen wird in Bildung investiert, und es wird allgemein friedlicher.
Daher ist es uns mehr denn je ein grosses Anliegen, die Frauen nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch zu stärken. Nur wenn eine Frau Geld hat, kann sie sich um die Familie kümmern und selbständige Entscheidungen fällen. Und ohne die Unabhängigkeit der Frauen gibt es keinen Frieden. Darum investiert WOS sehr viel in Bildungsprojekte. Wir bieten den Frauen unter anderem Kurse an, zum Beispiel über Technik, das Recycling von Grauwasser, oder wie man mit Abfall Bastelmaterialien für Kindergärten macht, aber auch zu Führungskompetenz und vielem mehr.
Unser Ziel ist es, in zwei Jahren in jeder palästinensischen Familie mindestens eine Frau bei WOS zu haben. Und jede soll wieder weitere mitbringen, bis wir ein grosses Netzwerk sind. Die Frauen müssen das jedoch aus eigenem Antrieb wollen, sonst funktioniert das nicht. Wir brauchen daher starke Frauen, die wir dann mit verschiedenen Führungspersönlichkeiten zusammenbringen, auch auf internationaler Ebene.
Wir werden bei Vorträgen im Ausland oft gefragt, was man denn als Individuum für uns tun könne. Unsere Antwort: Ihr müsst eure Regierungen davon überzeugen, dass wir Menschen sind, die Rechte haben, Freiheit, Gleichberechtigung und Frieden.
Das Recht auf Rückkehr können wir wohl nie durchsetzen. Aber ein Flughafen wäre wichtig und ist ein erreichbares Ziel. Ebenso wie Wasser, Strom, Telekommunikation und das Recht, sich frei im ganzen Nahen Osten zu bewegen. Das kann nur durch Druck von aussen geschehen, indem alle Parteien an den Verhandlungstisch gezwungen werden.»
Auf dem Hügelzug über Haifa empfängt uns Raefa in ihrer Wohnung mit Blick aufs Mittelmeer. Im Ofen garen bereits ein Huhn, Reis und Gemüse. An den Wänden hängen Stickereien mit traditionell rot-schwarzen palästinensischen Mustern, die Raefa selbst herstellt. Auf dem Beistelltisch im schlicht eingerichteten Wohnzimmer steht eine Schale mit frischen Kiwi- und Ananasscheiben für uns bereit.
«Ich stamme aus Kafr Kanna, jenem Ort, in dem Jesus an einer Hochzeit Wasser zu Wein gemacht hat. Menschen aus der ganzen Welt kommen dorthin, um die schöne Kirche zu sehen. Es ist ein gemischtes Dorf in der Nähe von Nazareth mit drei Moscheen, drei Kirchen und sehr guten Beziehungen zwischen den Religionen.
Wir waren fünfzehn Kinder, zehn Töchter und fünf Söhne. Für meinen Vater war es sehr wichtig, dass wir alle studierten, vor allem die Mädchen. Das war damals sehr aussergewöhnlich. Während der Nakba war er achtzehn. Noch heute – mit vierundneunzig Jahren – erinnert er sich mit viel Leid an alle Details, wer erschossen wurde, wer vertrieben. Aber er hat uns immer gesagt, wir dürften nicht hassen. Auch nicht die Juden. Das sei der einzige Weg, wie wir zusammenleben können.
Er war nicht religiös, aber er hat immer sehr viel gelesen. Weil es in unserem Dorf keine Bibliothek gab, hat er uns immer nach Nazareth mitgenommen. Er hat stets betont, dass seine Wahrheit nicht die einzige sei. Wer lese, öffne seinen Verstand und sehe auch andere Wahrheiten. Das ist bis heute seine Philosophie. Ich habe als Kind zwar verstanden, dass ich Palästinenserin bin und die anderen Zionisten. Aber in der Schule galt das israelische Narrativ, und es war verboten, über die Nakba zu sprechen.
«Nur wenn die Männer sich uns anschliessen , kann es endlich Frieden geben.»
Raefa Hakroush, palästinensische Israelin
Als ich nach Jerusalem kam, um hier soziale Arbeit zu studieren, habe ich zum ersten Mal jüdische Menschen getroffen. Ich lernte Hebräisch und teilte mit zwei Israelinnen eine Wohnung. Erst langsam begriff ich, dass es an der Uni Probleme gab zwischen Israelis und Arabern, dass ich einer Minderheit angehörte und dass nicht alle Menschen so tolerant erzogen waren wie ich.
Ich begann die Zusammenhänge zu sehen, das grosse Bild. Das war hart und kompliziert. Ich nahm erstmals an Treffen von arabischen Studenten teil und wurde aktiv. In jener Zeit habe ich in Ostjerusalem kleine Kinder unterrichtet und nach und nach die unterschiedlichen Realitäten kennen gelernt, mit denen Palästinenser leben müssen.
Damals war ich in der Kommunistischen Partei, die mehrheitlich arabisch war. Später habe ich zur linken Partei Meretz gewechselt, denn ich möchte in einem Land leben, wo Araber und Juden gut miteinander auskommen, so wie hier in Haifa. Als mein Vater von meinem politischen Engagement erfuhr, hat er mich ermahnt, das zu unterlassen. Er machte sich Sorgen, dass es einen negativen Einfluss auf meine Zukunft haben könnte. Von da an habe ich ihm nicht mehr erzählt, dass ich an Demonstrationen gegen die Besatzung teilnahm.
Das Massaker vom 7. Oktober war ein politischer Terroranschlag. Mit meiner Religion, mit dem Islam, hat das nichts zu tun. An jenem Samstag klopfte frühmorgens mein israelischer Nachbar an die Tür und sagte, es sei Krieg.
Später ging ich wie immer auf einen Kaffee zu ihm und seiner Frau. Wir sprachen darüber, ob wir wohl in unseren Schutzraum müssten, für den ich die Schlüssel aufbewahrte. Der Mann sagte: «Wir halten zusammen in dieser Geschichte.» Aber seine Frau war sehr aufgebracht und fand, man könne keinem Palästinenser mehr trauen, ich solle zurück in mein Dorf.
Ich blieb ruhig und sagte ihr, dass ich verstehe, was sie fühle. Aber dass es wichtig sei für mich, dass sie wisse, wie hart es auch mich treffe. Sie war schwer zu beruhigen. Es hat eine Weile gedauert, aber inzwischen haben wir wieder zusammengefunden. Trotzdem hat es sehr wehgetan, wusste sie doch genau, wie sehr ich mich für Frieden im Land einsetze.
Das tat ich auch am 8. Oktober. Zusammen mit anderen Bewohnern Haifas haben wir eine Karte mit allen Schutzräumen erstellt, und danach haben Juden und Araber diese Shelters gemeinsam gereinigt und bereit gemacht. Es war ein sehr wichtiges Projekt für unseren Zusammenhalt.
Seit 2019 engagiere ich mich auch bei WWP. Ich war zum Schluss gekommen, dass es nicht reicht, an Frieden zu glauben. Ich wollte aktiv etwas dazu beitragen. Derzeit bin ich sehr involviert und leite unter anderem unser Projekt «Building Bridges» mit WOS. Da treffen sich jüdische und palästinensische Frauen und tauschen sich über ihren Alltag als Mütter und ihren Glauben aus.
Die gegenseitige Angst ist gross, doch durch die gemeinsame Sorge um unsere Kinder haben wir eine Verbindung gefunden. Wir Frauen erschaffen Leben und haben dadurch einen breiteren und tieferen Blick auf die Dinge. Wir können Lösungen bringen. Männer wollen alles über Sieg und Gewalt erreichen. Nur wenn sie sich uns anschliessen und nicht umgekehrt, kann es endlich Frieden geben. Heute ist mein Vater sehr stolz auf mich.»
Die filigrane Frau im hellen Hijab lacht viel und zurückhaltend. Immer wieder tauscht sie sich ausführlich mit der Dolmetscherin aus. Aus dem Hauptraum vor dem Büro weht angenehm warme Luft zu uns ins kühle Büro. Sie stammt aus dem pyramidenförmigen Heizturm, in dem den ganzen Tag ein Feuer flackert, um die ansonsten unbeheizte und abgedunkelte Wohnung etwas gemütlicher zu machen.
«Vor unserer Heirat war mein Mann für neun Jahre im Gefängnis. Er hatte während der Intifada einen Molotowcocktail auf einen Jeep geworfen. Es ist nichts passiert, aber es wurde als Tötungsabsicht eingestuft. Von da an hatte er schwere körperliche und mentale Probleme. Ich musste ihn bei der Hand nehmen und ihn durch all seine Traumata begleiten. Das war schwierig nebst Kindern und Arbeit.
Weil er so viel Gewalt erfahren hatte im Gefängnis, neigte er zu Wutausbrüchen. Dann hat er zugeschlagen. Er hatte auch keine Geduld mit den Kindern. Aber jetzt ist das vorbei. Es war ein langer Weg, aber es hat sich gelohnt. Man kann die Männer nicht alle auf einmal ändern. Aber wir Frauen können die Männer in unserem Umfeld verändern.
«Manchmal denke ich, dies hier ist nicht das Heilige Land, sondern das verfluchte Land.»
Yasmin, Palästinenserin
Vor drei Jahren hat mich meine Schwester Reem zu WOS geholt. Die Familie meines Mannes hasst jede Form der Normalisierung mit Israel. Sie wissen zwar inzwischen, was ich tue, aber nicht, in welchem Ausmass. Sie würden es nicht billigen. Als wir vor dem Krieg nach Jaffa gingen, um Frauen von WWP zu treffen, habe ich unseren Kindern daher gesagt, dass die Frauen Touristen wären und eine fremde Sprache sprächen. Ich wollte nicht, dass sie dann in der Schule oder bei den Schwiegereltern erzählen, dass wir mit Israelis zusammen waren. Ich muss sie beschützen.
Für mich ist jede Gesellschaft wie eine Hand. Es gibt viele Finger, alle gehören dazu, die guten wie die schlechten. Das gilt für uns so wie für die Israelis. Auf beiden Seiten gibt es gute und schlechte Menschen.
Als unser ältester Sohn zwölf war, wollte er, dass sein Vater ihm erlaubt, in den Widerstand zu gehen. Da hat mein Mann ihm gesagt: «Schau mich an … Ich habe die besten Jahre meines Lebens verloren. Ich habe bis heute Probleme, körperlich wie seelisch. Dann habe ich eine Familie gegründet und arbeite seither daran, dir ein besseres Leben zu ermöglichen.»
Dieses Gespräch war keine Ausnahme. Für uns alle ist es ein sehr grosses Thema, unsere Söhne vor dem Druck der radikalen Kräfte in der Gesellschaft zu beschützen. Das ist eine sehr harte Aufgabe, vor allem für uns Mütter. Es ist nicht einfach, geistig gesund zu bleiben in diesem Wahnsinn. Dass wir trotz allem vernünftig bleiben, tun wir für unsere Familien. Wir haben zu viel Gewalt gesehen und keine Fortschritte. Dabei fordern wir nur ganz grundsätzliche Rechte für unsere Kinder – sie in Sicherheit zu wissen, sie gesund aufwachsen zu sehen und sie zu bilden. Das ist wirklich nicht viel.
Das Image von uns Palästinensern und die Vorurteile von uns als Terroristen ist schmerzlich für uns. Wenn zwei eine Auseinandersetzung haben und ein Aussenseiter hört sich nur eine Seite an, kann er nichts beurteilen. Er muss beide anhören, nur so kann man gerecht urteilen. Das geschieht leider nicht.
Und der 7. Oktober hat es der Welt noch einfacher gemacht, uns nicht mehr zuzuhören. Was damals geschehen ist, ist entsetzlich. Für die Menschen auf beiden Seiten. Für jene in Gaza, für die Geiseln, für die jungen Soldaten und ihre Eltern. Nichts kann all das Leid rückgängig machen, all die Familien zurückbringen, die vollkommen ausgelöscht wurden. Manchmal denke ich, dies hier ist nicht das Heilige Land, sondern das verfluchte Land.
Trotzdem wollen WOS und WWP unbedingt gemeinsam weitermachen, weil wir sonst jede Möglichkeit verlieren, unsere Kinder mit Zukunftsperspektiven aufzuziehen. Es ist wichtiger denn je, dass wir Frauen endlich Frieden schaffen. Das setzt voraus, dass wir selbst unseren inneren Frieden finden. Wir wollen leben und eine neue Generation erziehen, die vergeben kann. Uns und den anderen. Wenn Gott verzeihen kann, müssen wir Menschen das doch auch schaffen.»
Da ihr Mann und ihre Kinder ihre Friedensbemühungen für unrealistisch halten, zog sie es vor, dieses Gespräch nicht zu Hause zu führen, sondern an Regulas Esszimmertisch mit Blick auf den Garten. Sie hat einen Zopf mitgebracht, und wir legen ohne grosse Umschweife los. Man merkt der quirligen Professorin mit dem Pferdeschwanz und dem grossen Lächeln an, dass sie gewohnt ist, mit und vor Menschen zu sprechen.
«Ich bin in Argentinien in einem nicht-religiösen jüdischen Umfeld aufgewachsen und war Mitglied der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung. Vor fünfunddreissig Jahren bin ich nach Israel ausgewandert. Anfangs sprach ich kein Hebräisch, aber innerhalb von fünf Monaten beherrschte ich es fliessend und begann ein Studium der Erziehungs- und Politikwissenschaften an der Universität Tel Aviv, wo ich bis heute tätig bin.
Für meine Doktorarbeit führte ich vergleichende Studien über Kinder von Wanderarbeitern in Israel, der Schweiz und Frankreich durch. Wie ein Land diese Kinder behandelt, verrät viel über die gesellschaftliche Integration.
Ich liebe Kinder und glaube, dass alle es verdienen, in Würde aufzuwachsen, unabhängig von Herkunft, Klasse, Hautfarbe oder Religion. Um dafür zu kämpfen, habe ich mich schon früh in verschiedenen Organisationen engagiert. In unserer Region ist Gewalt zur Routine geworden. Hier scheint das Leben oft seinen Wert zu verlieren; die Menschen töten und werden gefühllos. Es ist entsetzlich.
«Es macht mir nichts aus, wenn Männer die Lorbeeren für unsere Initiativen einheimsen.»
Anabel Lifszyc
Wenn man als schwangere israelische Frau auf dem Ultraschallbild sieht, dass man einen Sohn erwartet, denkt man sofort: «Wird er in die Armee gehen?» Und seit auch Frauen an der Front kämpfen, sorgen sich die Mütter von Töchtern ebenso. Darum habe ich mir vor Jahren vorgenommen, alles zu tun, was möglich ist, um den Frieden zu sichern, und dabei im Kleinen zu beginnen – im täglichen Leben und in der Gemeinschaft.
Häuser werden von unten nach oben gebaut, nicht von oben nach unten. Ich glaube, dass Versöhnung möglich ist, wenn auch langsam. Mein Grossvater hasste die Deutschen sein Leben lang, aber zwei Generationen später bewunderte mein Sohn einen deutschen Fussballspieler und machte sogar ein Schulprojekt über ihn.
Als mein ältester Sohn fast siebzehn war, dachte ich: Du hast noch eineinhalb Jahre Zeit, um dem Nahen Osten Frieden zu bringen, bevor er zur Armee muss. Das war der Zeitpunkt, an dem ich WWP beitrat. Seitdem habe ich mein Bestes gegeben, leider hat es nicht gereicht. Seit dem 7. Oktober ist die Arbeit mit palästinensischen Frauen und die Überzeugung beider Seiten, sich für den Frieden zu vereinen, schwieriger, aber auch dringlicher geworden.
Die UNO-Resolution 1325 fordert die Beteiligung von Frauen an der Konfliktlösung und an politischen Prozessen. Aus diesem Grund haben wir neben der von Männern dominierten Knesset das Frauenkabinett gegründet, in dem wir Diskussionsrunden mit einflussreichen Frauen organisieren, um auf Lösungen zu drängen.
Ich werde nicht aufgeben, ich werde weiter mit meinen Kollegen zusammenarbeiten. Es macht mir nichts aus, wenn Männer die Lorbeeren für unsere Initiativen einheimsen, solange sie in die richtige Richtung gehen. Was zählt, sind Taten. Wie das Sprichwort besagt: Es ist besser, klug zu sein als Recht zu haben.»
Andrea Fischer Schulthess ist künstlerische Co-Leiterin des Millers Theater in Zürich. Im August erscheint ihr zweiter Roman «Noch fünf Tage» im Pendragon-Verlag.
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