Deutschland gefesselt: Warum die neue Regierung keinen Wandel bringt


Despite initial optimism, the new German government's economic policies are criticized for lacking substance and failing to address crucial issues like bureaucracy and excessive social spending.
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Deutschland ist ein gefesselter Riese. Doch die neue Regierung befreit ihn nicht

Mit der schwarz-roten Koalition hat sich die Laune in Deutschland verbessert. Aber wie viel Substanz haben Merz und Klingbeil wirklich? Skepsis ist angebracht.

Finanzminister Lars Klingbeil (links) und Bundeskanzler Friedrich Merz fehlt bisher der Mut zu einer marktwirtschaftlichen Reformpolitik. Imago; Bearbeitung NZZ

In der Politik siegt das Marketing oft über die Substanz. Dann verschleiern wolkige Worte, dass der harte Kern recht dürftig ist. Die beliebteste dieser Verdummungsvokabeln lautet: Sofortprogramm. Das suggeriert Tatkraft und Entschlossenheit, weshalb auch die schwarz-rote Koalition in Deutschland darauf nicht verzichten möchte.

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Doch der Zeitbegriff von Kanzler Merz und Finanzminister Klingbeil ist dehnbar. «Sofort» heisst, dass die Körperschaftssteuer in drei Jahren und damit kurz vor dem Ablaufdatum der Koalition gesenkt werden soll.

Das Programm verspricht auch den «Beginn einer grossen Rentenreform». Nimmt man die vielen halbgaren Reförmchen der letzten Jahre zum Massstab, ist das eine Jahrhundertaufgabe – auf jeden Fall nichts, was alsbald Realität wird.

«Sofort» bedeutet für Schwarz-Rot offensichtlich alles zwischen übermorgen und dem Sankt-Nimmerleins-Tag.

Die Regierung hat in den ersten Wochen ihrer Tätigkeit viel Zustimmung erfahren. Der Neuanfang nach langer Agonie der Ampelkoalition sorgt für Aufbruchstimmung. Das ist nach der Lähmung der letzten drei Jahre positiv.

Deutschland hat keinen Grund, den Glauben an sich selbst zu verlieren.

Aber gute Laune allein genügt nicht. Die schwarz-rote Koalition kann der Frage nach ihrer Substanz nicht ausweichen.

CDU/CSU und SPD sind drei gleichermassen staatsgläubige Parteien. Liberal sind sie nicht. Die Politik mischt sich ein, sie verteilt Wohltaten und interveniert. Das ist das verbindende Element in der Vernunftehe höchst ungleicher Partner.

So ist das Sofortprogramm in seinen wirtschaftspolitischen Passagen am konkretesten, wo es direkte und indirekte Subventionen verspricht: weniger Steuern für Gastwirte und Bauern, eine Entlastung für Berufspendler, mehr Geld für Rentnerinnen.

Dazu ein wildes Sammelsurium von der «Einführung eines digitalen Beurkundungsverfahrens» bis zur «Anpassung des Tierhaltungskennzeichnungsgesetzes». Da haben einzelne Lobbygruppen ganze Arbeit geleistet.

Bürokratie-Frösche legen keinen Teich trocken

Aber ist es das, was das Land jetzt am dringendsten braucht? Deutschland hat von allen EU-Staaten noch immer die solideste wirtschaftliche Basis. Dazu gehört eine beeindruckend starke und vielfältige Industrie vom klassischen Automobilbau bis zur Hightech-Optik, vom Mittelständler im Siegerland bis zum schwäbischen Weltkonzern. Darin übertrifft Deutschland auch die Schweiz.

Trotz fast drei Jahren Stagnation ist das Land nicht der kranke Mann Europas.

Dennoch ist der deutsche Riese gefesselt. Das liegt zum einen an der deutschen wie europäischen Bürokratie. Schlimmer als jedes unnötige Genehmigungsverfahren ist der dahinterstehende Ungeist. Die Verwaltung glaubt, durch detaillierte Vorschriften jedes Risiko vermeiden zu können. Die Folge: Unternehmerische Innovation wird erstickt.

Die USA gehen den umgekehrten Weg. Sie regulieren weniger. Wenn aber etwas schiefgeht, wirkt eine drakonische Produkthaftpflicht inklusive hoher Bussen. Der Unterschied lässt sich beim Diesel-Skandal wie bei der künstlichen Intelligenz betrachten.

Die deutsche Justiz ringt zehn Jahre nach der Aufdeckung immer noch mit der Aufarbeitung der kriminellen Machenschaften im VW-Konzern. Das Brüsseler Gesetzeswerk zur KI ist an Komplexität nicht zu übertreffen, denn für jede neue Technologie lassen sich unendlich viele potenzielle Risiken heraufbeschwören.

Das war bei der Gentechnik vor vier Jahrzehnten nicht anders. Doch die Welt wird nicht von Mutanten bevölkert, wie die üblichen Neunmalklugen damals vorhergesagt hatten. Die wahren Frankenstein-Monster tragen Namen wie Lieferkettengesetz oder KI-Gesetz.

Die Monster behindern auch die Wirtschaft in anderen EU-Staaten, aber nirgends schlägt das derart zu Buch wie in Deutschland, dem industriellen Powerhouse des Kontinents. Während der Hochkonjunktur vor der Pandemie liessen sich die Bürokratiekosten noch verschmerzen. Jetzt bilden sie mit den gestiegenen Energiepreisen und den geopolitischen Verwerfungen einen giftigen Cocktail für die Exportwirtschaft.

Wichtiger als die Zahl der abgeschafften Vorschriften ist die Veränderung der Denkart in den Amtsstuben. Das kann nur durch die Politik geschehen. Die Bürokratie-Frösche werden ihren Teich nie trockenlegen. Auch Deutschland braucht einen «Liberation Day». Er muss ja nicht so chaotisch ausfallen wie bei Donald Trump.

Das kleinteilige Sofortprogramm der Koalition weist aber in die entgegengesetzte Richtung. Statt sich auf ein paar wenige, aber fundamentale Veränderungen zu konzentrieren, beglückt man das Land mit noch mehr Detailregelungen.

Der Riese ist auch deshalb gefesselt, weil der schon immer stark regulierte Arbeitsmarkt inzwischen sein nichtstaatliches Feigenblatt verloren hat: die Tarifautonomie. Die Politik legt nach Belieben den Mindestlohn fest: mal per Gesetz, mal über den Umweg einer willfährigen Kommission. Die Regierung manipuliert damit die Lohnfindung insgesamt.

Der Mindestlohn wurde seit der Einführung 2015 zehnmal erhöht. Das drückt die anderen Gehälter ebenfalls nach oben. Der Arbeitsmarkt wird verzerrt. Die durchschnittlichen Bruttolöhne stiegen seit 2015 um 43 Prozent, der Mindestlohn aber um 51 Prozent.

Die Politik hält den Druck auf die Unternehmen konstant hoch, unabhängig vom Fortschritt der Produktivität. Diese ist in den letzten Jahren gesunken. Der Arbeitsmarkt ist nicht nur überreguliert, in manchen Branchen werden zudem keine marktgerechten Löhne gezahlt. Es wundert daher nicht, wenn die Firmen zwar noch gut verdienen – aber nicht in Deutschland, sondern im Ausland, wo sie auch hauptsächlich investieren.

An den verkorksten Arbeitsmarkt traut sich auch Kanzler Merz nicht heran. Er muss zufrieden sein, wenn die Planwirtschaft nicht weiter um sich greift. Die SPD verlangt bereits eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro. Sozialdemokraten und Gewerkschaften haben das perfekte Mittel gefunden, um die Wirtschaft vor sich herzutreiben.

Eingeführt wurde der Mindestlohn von einer CDU-Kanzlerin in Kollusion mit der SPD. Die meisten sozialpolitischen Verirrungen der letzten zwanzig Jahre gehen auf das Konto von Schwarz-Rot. Es braucht daher eine tüchtige Portion Optimismus, um zu glauben, dass diesmal alles anders wird.

Deutschland ist ein Beamtenstaat und kein Bürgerstaat

Abgesehen vom Kraftakt der Hartz-Reformen hat der deutsche Sozialstaat konstant Fett angesetzt. Ein Wunder ist das nicht, denn SPD und Union richten den Blick stets auf die Empfänger. Das gilt fürs Bürgergeld wie für die Mütterrente. Die ordentlich verdienende Mittelschicht, die alles bezahlen muss, findet hingegen nur in Sonntagsreden Erwähnung.

Ein Durchschnittsverdiener liefert 42 Prozent seines Einkommens für Sozialabgaben ab. Ledige zahlen noch mehr. Der Spitzensteuersatz greift schon unter 70 000 Euro, und die Unternehmenssteuern erreichen 30 Prozent – das Doppelte der Belastung in der Schweiz.

Private – ob Bürger oder Unternehmen – werden vom Staat kleingehalten. Die öffentliche Hand beansprucht die Hälfte der Wirtschaftsleistung für sich, in der Schweiz ist es nur ein Drittel. Alle Zahlen zeigen eines: Deutschland ist ein Beamtenstaat und kein Bürgerstaat. Solange sich das nicht ändert, kann der Riese seine Fesseln nicht abstreifen. Der europäische Champion vermag so seine volle Dynamik nie zu entfalten.

In wirtschaftlicher Hinsicht wird man die neue Regierung nur dann einen Erfolg nennen können, wenn sie die Gefrässigkeit des Leviathans begrenzt.

Dazu gehört mehr als nur eine zaghafte Senkung der Unternehmenssteuern am Ende der Legislatur. Auch die Lohnnebenkosten müssen spürbar runter, und das geht nur, wenn die Sozialausgaben und damit einzelne Sozialleistungen sinken.

Doch Klingbeil streut den Deutschen Sand in die Augen. Er erweckt den Anschein, als liessen sich die Sozialwerke schmerzfrei sanieren. Er erwarte «von allen Verantwortlichen mehr Phantasie als Leistungskürzungen für die Arbeitnehmer», zitiert ihn «Bild am Sonntag».

Wenn schon der sozialdemokratische Anführer so redet wie der Moderator von «Wünsch Dir was», dann kann man sich ausmalen, welche Stimmung an seiner notorisch ausgabefreudigen Parteibasis herrscht. Auch das ist ein Indiz dafür, dass die Neuauflage der «grossen» Koalition nicht viel mehr zustande bringen wird als ihre Vorgänger.

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