Ein verschlossenes Milieu: warum viele Russlanddeutsche die AfD wählen


The article explores why many ethnic Germans from Russia are voting for the AfD in Germany, focusing on their experiences of discrimination and fear of losing their newfound stability.
AI Summary available — skim the key points instantly. Show AI Generated Summary
Show AI Generated Summary

Sie sind dem Chaos der Sowjetunion entflohen und fürchten nun den erneuten Verlust ihrer Heimat. Warum viele Russlanddeutsche die AfD wählen

Sie wurden verfolgt, diskriminiert und vertrieben: In Deutschland leben etwa drei Millionen Menschen aus der Sowjetunion. Sie fassten Fuss – doch nun bangen sie um ihre Zukunft. Auf Spurensuche in einem verschlossenen Milieu.

Die Rilkestrasse im niederbayrischen Dingolfing liegt ausgestorben in der Vormittagssonne. Plötzlich jagt ein Hund hervor, springt den Zaun hoch und kläfft. Im Garten sitzt ein Mann auf einem Stuhl, freier Oberkörper, vor ihm auf einem Tisch ein Radio. Er ruft den Namen des Hundes. Als der nicht reagiert, brüllt er: «Komm her!»

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Von der Rilkestrasse kommt man zur Heinestrasse, weiter zu anderen Strassen, benannt nach deutschen Dichtern: Mörike, Ringelnatz, Herder, Fontane. Die Namen unterscheiden sich, das Bild der Strassen aber ist ähnlich: üppige Einfamilienhäuser mit Schrägdächern, bodentiefe Fenster, heruntergelassene Jalousien, Terrasse. Auf dem Rasen zieht der Mähroboter seine Bahnen.

Im Garten ein Schuppen, an der Grundstücksgrenze ein Zaun, Hecken, ein paar Bäume. Vor der Garage meist ein teures Auto, mitunter auch zwei. So sieht Wohlstand aus. Genormte deutsche Spiessigkeit. Alles fein säuberlich, ordentlich, fast steril, kalt. Weisse Fassaden. Keine Menschenseele zu sehen.

Die Heinestrasse zieht sich wie eine Allee durch Höll Ost 2 und Höll Ost 3, man läuft sie entlang und kommt am Ende der beiden Neubaugebiete zur Villa Kunterbunt. An der Fassade steht «Kindergarten» neben einem Pfeil nach links und «Kinderkrippe» neben einem Pfeil nach rechts. Vor dem Eingang zum Kindergarten stehen kleine Fahrräder in einem Ständer, überdimensionierte Bauklötze davor. Von der Rückseite des Gebäudes tönen an diesem Tag Anfang Mai Kinderstimmen.

Im Neubaugebiet wählen 61 Prozent die AfD

Die Villa Kunterbunt ist die Kindertagesstätte in dem Neubaugebiet. Zweieinhalb Monate zuvor, am 23. Februar, dem Tag der vorgezogenen Bundestagswahl in Deutschland, gehen keine Kinder, sondern erwachsene Menschen dorthin. In Kindergarten und Kinderkrippe sind Wahllokale eingerichtet. Der eine Teil von Höll Ost 2 und 3 wählt im Kindergarten, der andere in der Krippe.

Die Villa Kunterbunt in Dingolfing, Kindergarten und Kinderkrippe im Neubaugebiet. Hier befanden sich bei der Bundestagswahl die Wahllokale für das Wohnviertel.
Spielplatz auf einer Wiese im Dingolfinger Stadtbezirk Höll Ost 2.

Am Abend wird das Ergebnis verkündet. In der Kinderkrippe, wo der eine Teil der Bewohner beider Gebiete wählte, holt die AfD 61 Prozent der Zweitstimmen, im Kindergarten, wo der andere Teil abstimmte, 50 Prozent. Ausgerechnet in Wohngebieten wie Höll Ost 2 und 3, die erst ein paar Jahre alt sind und in denen es den Menschen anscheinend materiell an nichts fehlt. So hohe Stimmenanteile gewann die rechtsnationalistische und vom Inlandsnachrichtendienst vor kurzem als «gesichert rechtsextremistisch» eingestufte Partei bis dahin meist nur in ostdeutschen Orten. Wie ist das zu erklären?

Auf der Suche nach Antworten kann man durch die beiden Gebiete laufen und versuchen, mit Menschen zu sprechen. Das gelingt an dem Vormittag aber nicht. Die Strassen sind verwaist, bis auf den Mann im Garten mit Hund und Radio ist niemand zu sehen. Für Dingolfing ist das nicht ungewöhnlich. Die Stadt, heisst es, erwache nur dann kurz zum Leben, wenn bei BMW Schichtwechsel sei.

Das BMW-Werk 2.4 in Dingolfing. Hier baut der Münchner Autohersteller seine Oberklasse-Fahrzeuge.
Drohnenaufnahme von Höll Ost 3, dem jüngsten Neubaugebiet in Dingolfing.

Eine der wohlhabendsten Städte Deutschlands

Dingolfing war bis in die sechziger Jahre eine unbedeutende Kleinstadt, wie ganz Niederbayern eher ärmlich und landwirtschaftlich geprägt. Dann baute BMW dort das erste Werk ausserhalb Münchens und produziert hier inzwischen mehrere Oberklasse-Baureihen. Stadt und Landkreis gehören heute zu den wohlhabendsten in Deutschland. Die Stadt Dingolfing hat nach offiziellen Angaben finanzielle Rücklagen in Höhe von 450 Millionen Euro. Kaum eine andere Kommune in Deutschland hat so viel Geld auf der hohen Kante.

Dingolfing liegt auf halber Strecke an der Autobahn 92 von München nach Deggendorf. BMW hat dort 18 000 Mitarbeiter, die teilweise auch aus Tschechien und Österreich anreisen. Die Löhne sind hoch, die Arbeitszeiten kommod. Wer am Band bei BMW arbeitet, kann sich ein Einfamilienhaus leisten, wie es sie in Höll Ost 2 und 3 gibt. Aber was sind das für Menschen, die da leben?

Heinrich Trapp weiss es. Er war fast dreissig Jahre lang Landrat des Kreises Dingolfing-Landau. Vor gut fünf Jahren ging er in Pension. Trapp war oft in den Neubaugebieten, denn dort gibt es noch Menschen, die eine diamantene Hochzeit feiern können. 60 Jahre Ehe, das schaffen nicht mehr viele Paare. Da kommt selbst der Landrat zum Gratulieren.

Heinrich Trapp, ehemaliger Landrat des Landkreises Dingolfing-Landau.

Trapp sitzt an einem Tisch, es gibt Kaffee und Kuchen. Er ist ein jovialer Mann, der gern ein paar Zoten reisst. Er erinnert sich an eine diamantene Hochzeit in Höll Ost 2 vor sieben Jahren. Die fast 80 Jahre alte Frau habe ihn mit «Herr Landrat» begrüsst und von der Hochzeit erzählt, damals in Sibirien, als sie und ihr Mann zwanzig Kilometer zum Standesamt laufen mussten.

Einmal unterschreiben, das war es schon, Rückweg zu Fuss durch Eiseskälte. So sei es gewesen. Dann habe sie ihm von ihrer «schönen Rente» in Deutschland vorgeschwärmt, von ihrem Haus und dem BMW, den sich der Enkel gerade gekauft habe. Alles sei ganz wunderbar.

Mit dem Verständnis von Familie nicht vereinbar

Er habe sich für sie gefreut, berichtet Trapp, und dann beiläufig gefragt, wieso in dem Wohngebiet seit einigen Jahren die AfD immer besser abschneide. Ja, habe die Frau geantwortet, während sie damals für alles ein Zertifikat gebraucht hätten, bekämen die Migranten heute alles in den Hintern geschoben. Ausserdem sei (die damalige Bundeskanzlerin) Angela Merkel inzwischen auch für die Ehe für alle. Das sei mit ihrem Verständnis von Familie nicht vereinbar. Deshalb wähle sie jetzt die AfD.

Trapp hat einige Geschichten wie diese auf Lager. Viele Paare mit diamantenen Hochzeiten, die er im Lauf der Jahre in Höll Ost besuchte, trugen deutsche Nachnamen, besassen einen deutschen Pass und waren deutscher Herkunft. Doch ihre Familiengeschichte handelt von Deportation, Vertreibung, Not und Elend, von Chaos, Angst und vielen Umbrüchen.

Es sind Menschen, deren Vorfahren einst in Deutschland lebten, nach Russland auswanderten und dort in den Wirren der Zeit nie heimisch wurden. Anfang der neunziger Jahre kamen mehrere Millionen von ihnen aus der zerfallenen Sowjetunion zurück nach Deutschland. Sie wollten endlich eine Heimat finden, Wurzeln schlagen, ankommen. Das Land ihrer Urgrossväter war ihr grosser Lebenstraum.

In der Sowjetunion die Deutschen, in Deutschland die Russen

Auch in Dingolfing, wo mit dem Wachstum von BMW der Wohlstand stieg. Während sie in der Sowjetunion die Deutschen waren, waren sie in Deutschland die Russen. Doch der Wille, in diesem Land anzukommen, war stärker als jede Diskriminierung. Als in Höll Ost neue Grundstücke ausgewiesen wurden, verschuldeten sich viele Menschen über beide Ohren. Man kann Heinrich Trapp fragen, den Bürgermeister Armin Grassinger (parteilos) oder bei der Lokalzeitung, alle sagen das Gleiche: Es seien vor allem Russlanddeutsche, die in Höll Ost 2 und 3 in den zurückliegenden Jahren neu gebaut hätten.

Wenn das stimmt, dann wirft das Wahlergebnis in der Villa Kunterbunt vor allem eine Frage auf: Warum wählen ausgerechnet Menschen einer der grössten Einwanderergruppen in Deutschland eine offen migrationskritische Partei wie die AfD? Nicht nur in Dingolfing ist das so, sondern offenbar auch in anderen überwiegend westdeutschen Orten, in denen viele Russlanddeutsche leben. Pforzheim in Baden-Württemberg gehört dazu oder auch Kaiserslautern in Rheinland-Pfalz. In beiden Städten hat die AfD bei der Bundestagswahl die meisten Zweitstimmen geholt.

Blick auf das Dingolfinger Wohngebiet Höll Ost 3.
Strassenszene im Dingolfinger Wohngebiet Höll Ost 2.

«Gehirnwäsche» durch russisches Staatsfernsehen

Es ist schwierig, auf die Frage in Dingolfing eine Antwort zu finden. Eine ältere Frau erklärt sich zum Gespräch bereit, will aber ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie kam wie viele Russlanddeutsche aus Sibirien nach Deutschland und sagt, ein Grossteil ihrer Landsleute werde «einer Gehirnwäsche» unterzogen. Sie schauten fast nur noch russisches Staatsfernsehen, das ihnen mit seiner Propaganda die Sinne verneble.

Eine andere Russlanddeutsche lehnt ein Gespräch ab und schreibt lediglich auf Whatsapp, ihre «Landsleute» seien nicht offen für dieses Thema. Ein Dritter meint, die Russlanddeutschen seien trotz gelungener Integration unzufrieden und fast alle AfD-Wähler. Aber reden will auch er nicht. Es gebe da eine grosse «soziale Kontrolle», sagt der Ex-Landrat Trapp.

Vor einigen Jahren hat die Bundesregierung eine Studie über Spätaussiedler veröffentlicht. Dazu gehören vor allem die Russlanddeutschen. Die meisten Menschen identifizierten sich mit Deutschland, wählten oft die CDU oder CSU, vermehrt aber auch die AfD, heisst es darin. Zugleich hätten «postsowjetische Aussiedler und insbesondere Russlandstämmige zu einem nicht geringen Teil eine prorussische Haltung».

Schon damals fiel den Autoren auf, dass «in Stadtteilen und Wahlbezirken mit einem hohen Anteil postsowjetisch Zugewanderter häufiger AfD gewählt wurde». Das Wahlergebnis in Höll Ost 2 und 3 lässt den Schluss zu, dass sich dieser Trend in Dingolfing weiter verfestigt hat. Doch während dort kaum jemand offen darüber reden will, sieht es 330 Kilometer weiter westwärts in Ludwigsburg nördlich von Stuttgart im Bundesland Baden-Württemberg anders aus.

In Ludwigsburg wollen die Russlanddeutschen reden

Die Wärme der letzten Tage hat den Garten von Viktor Dietz geradezu explodieren lassen. Es blühen die Dahlien und Pfingstrosen, eine rote, gelbe, rosa und lila Farbenpracht. Die Tulpen verlieren schon die Blütenblätter, im Gewächshaus stehen die Tomaten. Weiter vorn zum Eingang hin finden sich die Beete mit den Gurken und Erdbeeren. Im Sommer, in der Erntezeit, wüssten sie manchmal nicht, wohin mit den ganzen Früchten, so viel werfe der Garten ab, sagt Dietz.

Verlässt man seinen Garten und läuft den Weg nach oben, stösst man auf das Vereinsheim der Gartenfreunde Ludwigsburg, Anlage Kastanienhain. Es ist eine Kleingartensiedlung, wie es sie in Deutschland zu Tausenden gibt, parzelliert, umzäunt, 30 Prozent Obstanbau, 30 Prozent Gemüse, ein bisschen Rasen, ein Gartenhäuschen. Die Nutzung der Fläche ist genau vorgeschrieben.

90 Prozent der Gartenbesitzer im «Kastanienhain» sollen Russlanddeutsche sein. So berichtet es Inna Dietz-Kravtsov, die Nichte von Viktor Dietz. Sie ist Kreisvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Ludwigsburg. Sie hat den Termin im «Kastanienhain» vermittelt.

Alexander Dietz in seinem Gewächshaus in der Gartenanlage Kastanienhain in Ludwigsburg.
Alexander Melcher (links) und Viktor Dietz im Vereinsheim der Gartenfreunde Ludwigsburg.

Das Vereinsheim ist ein grosser, holzvertäfelter Raum mit Tischen, die in U-Form aufgestellt sind. An Wochenenden finden hier oft Familienfeiern statt. An diesem Tag aber sitzen nur vier ältere Männer am Tisch, darauf eine Kanne mit Kaffee und Teller mit Gebäck. Neben dem 66-jährigen Viktor Dietz sind Alexander Melcher (70), Alexander Dietz (75) und Markus Bellmann (72) dabei, Russlanddeutsche, die vor gut dreissig Jahren mit ihren Familien in die Bundesrepublik kamen.

Bei ihnen fällt auf, wie unpräzise und irreführend der Begriff «Russlanddeutsche» ist. Bellmann kam aus Usbekistan nach Deutschland, die anderen drei aus Kasachstan. Sie gehören der ersten Generation der Aussiedler aus der Sowjetunion an, die geschuftet haben, um anzukommen, um in Deutschland leben, vor allem aber, um ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen zu können. Abgearbeitete Körper, schwielige Hände, ehrliche Gesichter, ohne Blatt vor dem Mund.

Inna Dietz-Kravtsov, Gründerin des russlanddeutschen Bildungszentrums Kroschka und Kreisvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland.

Deutschland ist nicht mehr ihr Land

Markus Bellmann beginnt das Gespräch, in der Sowjetunion war er Kraftfahrzeug-Ingenieur, später in Ludwigsburg Konstrukteur. Er trägt ein graues Poloshirt, die Sonnenbrille in den Halsbund gesteckt, und sagt, er habe viel Hoffnung gehabt, in Deutschland seine Heimat finden zu können. Es sei eine schreckliche Zeit gewesen, damals, als die Sowjetunion zerfallen und im Chaos versunken sei. Das Deutschland, in das er damals gekommen sei, sei grossartig gewesen. Aber es existiere heute nicht mehr.

Es ist, als hätten die anderen nur auf dieses Stichwort gewartet. Die Kirchen seien früher voll gewesen, sagen sie, heute dürfe da nicht einmal mehr «Stille Nacht, heilige Nacht» gesungen werden, allenfalls auf Englisch, um niemanden auszuschliessen.

Wo konkret das so sein soll, bleibt offen. Aber es ist schnell zu spüren, was ihnen unter den Nägeln brennt. Die Deutschen hätten keine Beziehung mehr zu ihren Wurzeln, klagen sie. Es gebe heute keine Mutter mehr, keinen Vater, sondern «Eltern eins» und «Eltern zwei», und langsam werde der Bevölkerung das alles egal. Für sie aber habe die traditionelle Familie einen Wert, die Religion, die Kultur. Deutschland sei nicht ihr Land, nicht mehr jedenfalls, nicht so, wie es sich gerade entwickle.

Angst vor erneutem Chaos

Menschen, deren Familien über Jahrhunderte weit im Osten lebten, die sich trotz aller Verfolgung immer als Deutsche verstanden, die deutsche Traditionen, Lieder und Rituale pflegten und weitergaben, kommen nach Deutschland zurück und fühlen sich dort inzwischen offenbar am falschen Ort. «Ich will nicht noch einmal das Chaos und die Rechtlosigkeit wie in der Sowjetunion erleben», sagt Bellmann, und die anderen nicken. Doch genau das scheinen sie zu befürchten.

Markus Bellmann während des Gesprächs im Kleingartenvereinshaus.
Der Garten von Alexander Dietz, wie die meisten Gärten in der Anlage in Besitz eines Russlanddeutschen.

Den Grund dafür nennt Alexander Melcher. «Die Zuwanderung hat das Land umgekrempelt», sagt er. Er meint damit nicht die der Russlanddeutschen, sondern diejenige aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und vielen anderen Ländern. Es werde immer chaotischer, man glaube kaum noch, dass eine Ordnung existiere. Viktor Dietz ergänzt, ihm komme Deutschland manchmal vor wie Russland in den neunziger Jahren. Messerstechereien an Bahnhöfen, Anschläge auf Weihnachtsmärkte und Städte, die stetig vermüllten.

Für die vier ist offenbar klar, wer daran die Schuld trägt. Angela Merkel, die die Asylmigranten ins Land habe kommen lassen, und die Politiker heute, die sie nicht wieder aus dem Land schafften. Früher habe Deutschland Staatsmänner gehabt, sagt Bellmann und nennt Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Heute habe es nur noch Politiker.

Die Brüder Viktor und Alexander Dietz auf der Veranda im Garten von Alexander Dietz.

Worte, die verächtlich klingen, aber auch ernüchtert. Wenn Liebe enttäuscht wird, kann sie schnell in Ungerechtigkeit, Wut und Hass umschlagen. Alle vier sagen, dass sie nicht einen Tag ihres Lebens in Deutschland arbeitslos gewesen seien. Nie hätten sie dem Staat auf der Tasche gelegen. Die heutigen Migranten aber, die wollten das Leben hier doch gar nicht. Die wollten sich nicht integrieren. Die wollten vor allem das Geld.

Auch die Russlanddeutschen waren einmal Aussenseiter

Es sind Stereotype, Ressentiments und Vorurteile gegenüber Migranten im Allgemeinen, die in der Runde geäussert werden. Klischees, die es einst auch gegenüber den Russlanddeutschen gab. Kriminelle, Sozialschmarotzer, Corona-Leugner, Querdenker, AfD-Wähler und Putin-Freunde, so und in dieser Reihenfolge würden sie von vielen Deutschen seit Anfang der neunziger Jahre immer wieder bezeichnet, sagt Waldemar Eisenbraun, einige Jahre lang Bundesvorsitzender der Landmannschaft der Deutschen aus Russland.

Zumindest das AfD-Attribut trifft auf die vier zu. Das räumen sie freimütig ein. Früher hätten sie CDU gewählt, da sei die Partei noch konservativ gewesen. Aber das sei vorbei. Als Putin-Freunde indes würden sie sich nicht bezeichnen, und richtig sei auch, dass Russland die Ukraine überfallen habe. Doch dann driftet das Gespräch auf das Gebiet der russischen Propaganda.

Russische Propaganda zum Krieg in der Ukraine

Sie bemühen allesamt Aussagen, die auch aus Putins Agitationsküche stammen könnten. Die ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson seien schon immer russisch gewesen. Das ist eine dieser Aussagen. Putin führt seit mehr als drei Jahren vor allem in diesen vier Oblasten einen erbarmungslosen Bodenkrieg.

Die Ukraine habe doch nie wirklich existiert, sie sei nur ein künstliches Gebilde von Moskaus Gnaden. So lautet eine andere Aussage. Eine dritte: Die Krim sei ein Geschenk von Nikita Chruschtschow, dem damaligen sowjetischen Regierungschef, an die Ukraine gewesen, sie sei also eigentlich auch russisch.

Vieles davon ist von Historikern als Geschichtsklitterung Putins lange widerlegt. Doch die Delegitimation der Ukraine ist ein beliebter Gegenstand der Berichterstattung im russischen Staatsfernsehen. Sie scheint, das zeigt das Gespräch mit den vier Männern, ebenso zu verfangen wie die Erklärung, dass «der Westen» Schuld am Krieg trage.

Er habe das Versprechen gebrochen, die Nato nicht nach Osten zu erweitern. Er habe den Umsturz in Kiew unterstützt. Und er habe verhindert, dass Russland und die Ukraine im Frühjahr 2022 in Istanbul einen Friedensvertrag schliessen. Putin habe lediglich sein Land verteidigt. Die Ukraine müsse kapitulieren, sagt Alexander Melcher. Sonst gehe das immer so weiter.

Deutschland ist unsere Heimat, sagen die Jüngeren

Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Das ist Thema auch an einem anderen Ort in Ludwigsburg. In einem Kultur- und Bildungszentrum nahe dem Bahnhof sitzen vier Russlanddeutsche der zweiten Generation. Sie sind die Kinder, die die Generation der vier Männer im «Kastanienhain» mit nach Deutschland gebracht hat. Einer von ihnen ist IT-Ingenieur und reist durch die Welt, einer makelt mit Immobilien, eine wird Lehrerin, und die vierte arbeitet bei Porsche. Deutsche Erfolgsgeschichten.

Sie waren noch Kinder, als ihre Eltern mit ihnen aus der Sowjetunion nach Deutschland kamen. Heute fühlen sie sich in der Bundesrepublik heimisch: Inge Moor, Andreas Melcher, Stefan Gaab (von links) im Bildungszentrum Kroschka in Ludwigsburg.
Der Marktplatz von Ludwigsburg.

Sie alle sind sich einig: Deutschland ist ihre Heimat. Hier sind ihre Kinder geboren, hier wollen sie bleiben. Nein, nicht mehr jeder hat ein Haus oder eine Wohnung gekauft. Sie glauben an die Zukunft auch ohne Eigentum. Darüber können sie begeistert sprechen.

Kommt die Rede aber auf den Krieg in der Ukraine, werden sie schmallippig. Am Anfang hätten sie russisches, ukrainisches und deutsches Fernsehen geschaut, um möglichst umfassend informiert zu sein. Doch da sei man «langsam verrückt geworden». Die meisten von ihnen schauten inzwischen keine Nachrichten mehr. Sie wüssten nur, dass schrecklich sei, was gerade geschehe. «Wir wissen nicht, wo die Wahrheit liegt», sagen sie.

Und die Wahl der AfD? Sind die jungen Leute wie die Generation ihrer Eltern? Die Parteien versprächen viel und hielten wenig, sagen sie. Das Problem sei, dass sie alle vielfach enttäuscht worden seien von «den Parteien». Früher hätten sie CDU gewählt, auch SPD. Zur AfD sagen sie nur so viel: Sie verspreche, was die Russlanddeutschen haben wollten.

Birkenhain neben der Kleingartenanlage Kastanienhain in Ludwigsburg.

Was this article displayed correctly? Not happy with what you see?

Tabs Reminder: Tabs piling up in your browser? Set a reminder for them, close them and get notified at the right time.

Try our Chrome extension today!


Share this article with your
friends and colleagues.
Earn points from views and
referrals who sign up.
Learn more

Facebook

Save articles to reading lists
and access them on any device


Share this article with your
friends and colleagues.
Earn points from views and
referrals who sign up.
Learn more

Facebook

Save articles to reading lists
and access them on any device